Wandlungen eines Mythos

Die Kulturrevolutionäre von 1968 - Garanten der liberalen Kultur in Deutschland?

Richard Herzinger

Die Diskurshoheit in den deutschen Intellektuellendebatten wird nach wie vor souverän von sogenannten »68ern« behauptet. Ob Hans Magnus Enzensberger, Martin Walser, Peter Schneider, Botho Strauß oder Peter Handke: Die Leitthemen der Debatte werden in ganz wesentlichem Maße von Köpfen bestimmt, die entweder zu den Wortführern der 68er Bewegung gehörten oder politisch und intellektuell von ihr beeinflußt worden sind.

Die Meinungsführerschaft der 68er in intellektuellen Angelegenheiten scheint auch die oft beschworene Paradigmenwende von 1989 weitgehend unbeschadet überstanden zu haben. Den einen oder anderen 68er Linken auf seine Seite zu ziehen ist heutzutage selbst für die konservative Rechte von größter Attraktivität geworden. Daß die Rechte sich eigentlich nur dann Hoffnung auf breitere Resonanz in der kulturellen Elite machen kann, wenn sie sich an irgendeine spektakuläre »konservative Wende« eines Großkopfeten der Linken anhängt und gleichsam vampiristisch deren Nimbus als Tabubrecher anzapft - die rechtskonservativen Vereinnahmungsversuche von Martin Walser und Botho Strauß1 sind die schlagendsten Beispiele dafür -, beweist eindrucksvoll, wie stabil die Hegemonie der alt gewordenen Neuen Linken von einst noch immer ist.

Wer eine solche unbestrittene Vorherrschaft über einen so langen Zeitraum hinweg behaupten kann, muß über einen kraftvollen Mythos verfügen. Dies ist bei den sogenannten 68ern wie bei kaum einer anderen intellektuellen Diskursformation der Fall. Wie jeder wirkungsmächtige Mythos bezieht auch der von 1968 seine Stärke aus seiner Abwandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit:

Unendlich variierbar, bleibt er doch in seiner Grundsubstanz unverändert. Erst mit den 68ern, so lautet seine Botschaft, hat im Nachkriegsdeutschland die demokratische Moderne wirklich begonnen. Mit dieser Ursprungslegende ließ sich die langjährige Fundamentalopposition der Linken gegenüber dem »System« ebensogut legitimieren wie sich durch sie heute die neue Rolle einiger ihrer führenden Repräsentanten als geistige Stützen der liberalen Demokratie absichern läßt. Die Fundamentalopposition konnte ihre Position mit dem Hinweis darauf als die moralisch überlegene ausweisen, daß sie - wie absurd ihre politischen Forderungen auch waren - gegen einen Kontrahenten, das »Establishment«, antrat, der angeblich noch der demokratischen Vormoderne angehörte und somit historisch von vornherein gegen sie im Unrecht war. Heute rühmt sich die geläuterte Linke, ihre einstige Fundamentalopposition habe die demokratische Moderne auch in Deutschland durchgesetzt und ihren einstigen Erzfeind zwar nicht gestürzt, aber doch langfristig zermürbt und gewandelt. An die Stelle eines vormodernen sei ein modernes (verwestlichtes) demokratisches Establishment getreten, als dessen intellektuell-kulturelle Vordenker die einstigen 68er gelten wollen. Als solche beanspruchen sie Autorität, obwohl sie mit fast allen ihren politischen Analysen und Konzepten von damals Schiffbruch erlitten haben.

Viele DDR-Intellektuelle und Schriftsteller müssen sich heute, wie ich finde zu Recht, unangenehme Fragen danach gefallen lassen, was sie denn bewogen habe, Stalin-Hymnen zu dichten, die Mauer zu rechtfertigen, die Sowjetunion während des Afghanistankrieges als Garanten des Weltfriedens zu feiern oder noch Ende 1989 zur Verteidigung der »humanistisch-antifaschistischen Errungenschaften« des totalitären Zwangssystems DDR aufzurufen. Dagegen mußten sich die Alt-68er nicht oder wenig öffentlich darüber verbreiten, was sie dazu getrieben hat, mit ekstatischem Tremolo die Namen von brutalen Diktatoren und notorischen Massenmördern zu skandieren, fahnenschwingend nach »zwei, drei, vielen Vietnamkriegen« zu rufen und eine der brutalsten politischen Massenverfolgungen dieses Jahrhunderts, die chinesische Kulturrevolution, zum Fanal für die universale Emanzipation des Menschengeschlechts zu erklären.

Während viele DDR-Intellektuelle aus dem Untergang der DDR nicht ohne Beschädigung ihrer politischen und moralischen Reputation davongekommen sind, hat die intellektuelle Autorität der 68er unter den Enthüllungen des Ausmaßes der Verbrechen Mao Tse-tungs, Ho Chi Minhs, Fidel Castros oder der Roten Khmer nicht gelitten - jener Ölgötzen antiimperialistischer Studentendemonstrationen, die von breiten Teilen der 68er Bewegung einst mit Inbrunst an die Macht gewünscht worden waren. Das Pech von utopisch orientierten DDR-Intellektuellen ist es wohl, daß sie in dem System lebten, das sie zuerst emphatisch unterstützt, dann lange Zeit schöngeredet und noch zuletzt - wenn auch mit kritischen Untertönen - gerechtfertigt haben. Sie wurden daher unmittelbar mit diesem System identifiziert, und sie sind heute gezwungen, mit den Opfern ihrer Utopien Tür an Tür in ein und derselben offenen Gesellschaft zu leben. Dagegen konnten die 68er zuerst den Sieg der chinesischen Kulturrevolution und der kambodschanischen Roten Khmer fordern und sich, nachdem ihnen dieser Herzenswunsch erfüllt worden war, getrost von dem Schicksal der Menschen in China oder Kambodscha ab- und neuen, phantasieanregenden Revolutionsbewegungen wie denen in Portugal oder in Nicaragua zuwenden. Die Leute, um die es ging, waren einfach viel zu weit weg, als daß sie die emanzipatorische Alltagsroutine der einstigen Matadore der Trikont-Solidarität hätten stören können, die inzwischen - seit Mitte der siebziger Jahre - die »neue Innerlichkeit« für sich entdeckt hatten oder die Gründung der Grünen Partei vorbereiteten. Kein gelähmtes oder verstümmeltes Opfer der chinesischen Roten Garden zeigte mit anklagendem Finger auf die einstigen Chefideologen des SDS und keine vietnamesischen Boat-People besetzten die Räume von Frankfurter oder Berliner Wohngemeinschaften, um Schadensersatz zu fordern. Die 68er konnten sich von ihrem aggressiven Revolutionsromantizismus in aller Ruhe entwöhnen, ohne daß ihr Image als schöpferische Radikaldemokraten zusammengebrochen wäre.

Weltverschwörungstheorie

Bleiben wir bei Hans Magnus Enzensberger. Es ist wohl wahr, daß Enzensberger nie etwas für sentimentalen Revolutionskitsch übrig gehabt hat. Und es stimmt, daß er sich schneller und gründlicher als andere Köpfe von 1968 von den Illusionen dieser Jahre verabschiedet hat. Ebenso wahr ist aber, daß er wie kaum ein anderer den aggressiven, apokalyptischen Tonfall der 1968er Bewegung geprägt hat, der sich vor allem in einer militanten antiamerikanischen Weltverschwörungstheorie niederschlug. Dieser Antiamerikanismus war übrigens keineswegs bloß ein »Antiamerikanismus aus Unkenntnis«, wie Gesine Schwan in einem Aufsatz2 beschwichtigend meint; er hatte die Ausmaße einer geschlossenen Weltanschauung. Enzensberger hielt sich 1967 selbst in den USA auf. Sein Fellowship an der Wesleyan University in Connecticut gab er jedoch schon bald wieder auf und verließ die Vereinigten Staaten demonstrativ in Richtung Kuba. Seinen Schritt begründete er in einem offenen Brief an den Universitätspräsidenten, der im März 1968 in der Zeit veröffentlicht wurde. Darin erklärte Enzensberger: »Ich halte die Klasse, welche in den Vereinigten Staaten von Amerika an der Herrschaft ist, und die Regierung, welche die Geschäfte dieser Klasse führt, für gemeingefährlich. Es bedroht jene Klasse, auf verschiedene Weise und in verschiedenem Grad jeden einzelnen von uns. Sie liegt mit einer Milliarde von Menschen in einem unerklärten Krieg mit allen Mitteln, von Ausrottungs-Bombardements bis zu den ausgefeiltesten Techniken der Bewußtseins-Manipulation. Ihr Ziel ist die politische, ökonomische und militärische Weltherrschaft.«3 Für Enzensberger stand fest, daß die Zustände in den USA an das Deutschland der dreißiger Jahre erinnerten. Die Methoden der Herrschaft hätten sich, wie Enzensberger in seinem offenen Brief darlegte, freilich geändert: das Vernichtungspotential sei unendlich gewachsen, die Technik der Unterdrückung unendlich verfeinert worden.

Noch weniger als bei Hans Magnus Enzensberger handelte es sich bei dem Schriftsteller Reinhard Lettau um einen »Antiamerikaner aus Unkenntnis«. Als er Ende 1970 in Enzensbergers Kursbuchseine Chronik »Täglicher Faschismus« veröffentlichte, in der er anhand von Zeitungsberichten den repressiven Alltag der US-Gesellschaft anprangerte, da lebte Lettau schon seit Jahren als Literaturprofessor in den Vereinigten Staaten. Lettau betonte in seinem Pamphlet zwar, er sei »nicht der Ansicht, daß in Nordamerika schon der Faschismus, wie wir ihn historisch kennen, eingeführt sei«. Aber, so erklärte er weiter, »wir (nähern) uns dort einem Zustand, in dem die täglichen Verbrechen der Herrschenden und ihrer Lakaien einem Widerstand im Volk begegnen, den diese nicht mehr dulden können.« Der Titel »Täglicher Faschismus« solle, so Lettau, »darauf hinweisen, daß die Indizien für den herannahenden Faschismus sich täglich und immer schneller verstärken - daß für seine Opfer die Unterschiede zwischen dem täglichen, inzipienten amerikanischen Faschismus und dem offenen, erklärten Faschismus nicht existieren«.4 Die These Lettaus, nach der die politische Macht in den USA untrennbar mit dem »täglichen Verbrechen« verwachsen sei, geht ihrerseits auf Enzensberger zurück. An Brecht anknüpfend, hatte dieser schon 1964 das Chicago Al Capones als das prototypische Modell eines modernen terroristischen Herrschaftssystems bezeichnet, in dem Politik und Verbrechen eins geworden seien. Vor dem Hintergrund seiner Diagnose vom Verschwinden der Moral in der Herrschaft des Verbrechens folgerte Enzensberger, daß im Zeitalter atomarer Massenvernichtungswaffen eine Art universales Auschwitz drohe. Das Beunruhigenste an Auschwitz sei nicht, daß Deutsche es realisiert hätten, sondern daß es überall wiederholt werden könne.5

Nicht nur ließ die Ideologie von 1968 die Spezifik des Nationalsozialismus in einer enthistorisierenden Konstruktion eines globalen, technologisch-konsumterroristischen »Faschismus« neuen Typs verschwinden. Sie verknüpfte diese Konstruktion auch mit einer handfesten Verschwörungstheorie: Amerika wurde zur Zentrale des drohenden faschistischen Weltreichs erkoren und zum Weltfeind Nr. 1 gestempelt. Das letzte Resultat der Entspezifizierung von Auschwitz war also nicht ein indifferenter »Escapismus« gewesen, wie Hannah Arendt in einer Kritik an Enzensberger 1964 gemutmaßt hatte,6 sondern eine großangelegte projektive Verschiebung: Nicht mehr der deutsche Nationalsozialismus galt nun als der äußerste negative Maßstab einer politisch-moralischen Orientierung, sondern ein amerikanisches Weltherrschaftsstreben, das mit »allen Mitteln« der Vernichtung Krieg gegen die Menschheit führe und dabei den Nationalsozialismus an manipulativer Raffinesse noch übertreffe.

Revolutionäre Todesmystik

Es ist nur teilweise wahr, daß sich dieser Antiamerikanismus, wie Gesine Schwan meint, »am Vietnamkrieg entzündet« hat, also das Produkt moralischer Empörung über das Vorgehen der USA in Indochina war. Fraglos ließ die brutale amerikanische Kriegsführung Vietnam zum Symbol einer tiefen moralischen Krise der westlichen Welt werden. Gegen das amerikanische Vorgehen in Vietnam schärfsten Protest einzulegen war völlig legitim. Die ideologischen Führer der 68er Bewegung hielten von einer solchen Art von Protest jedoch gar nichts. Solche bloße Empörung galt ihnen - wie Bernd Rabehl, Christian Semler und Rudi Dutschke in einem Gespräch mit Enzensberger im »Kursbuch« vom August 1968 bekräftigten 7 - vielmehr als Ausdruck eines hilflosen liberalen Pazifismus, welcher die Kampfbereitschaft gegen den »amerikanischen Imperialismus« und seine westlichen Komplizenstaaten unterminiere. Auf dem legendären internationalen Vietnamkongreß in Berlin Anfang 1968 schlossen sich die Führer des SDS der Forderung des revolutionären apokalyptischen Todesmystikers Che Guevara an, der in seiner Ansprache vor der Organisation der Trikontinentalen Solidarität in Havanna im April 1967 erklärt hatte: »Die kubanische Revolution steht heute vor der Aufgabe, (<193>) ein zweites oder drittes Vietnam, oder das zweite oder dritte Weltvietnam zu schaffen.«8 Guevara kritisierte die Sowjetunion und die Volksrepublik China dafür, daß sie zur Verteidigung Vietnams nicht den weltweiten nuklearen Atomkrieg riskierten. Und er forderte die Revolutionäre überall auf, einen globalen, totalen Krieg gegen den verhaßten Yankee-Imperialismus zu entfesseln. Kein einziger amerikanischer Soldat irgendwo auf der Welt sollte sich mehr sicher fühlen dürfen, weder in seiner Unterkunft noch im Kino, noch in der Stadt. Indem er wie ein wildes Tier gehetzt würde, würde er schließlich wie eine Bestie reagieren und so den notwendigen revolutionären Haß gegen die USA noch steigern. Guevara forderte jeden einzelnen auf, notfalls sein Leben (und ganze Völker, ihre Existenz) für den apokalyptischen Endkampf gegen Amerika zu opfern. »Wo immer der Tod uns überraschen mag«, rief Guevara aus, »laßt uns ihn willkommen heißen, vorausgesetzt, daß wenigstens dies, unser Schlachtruf, irgendein aufnahmefähiges Ohr erreicht hat und eine andere Hand sich ausstrecken möge, unsere Waffen zu gebrauchen, und andere Menschen bereit sind, die Totenklage mit dem Staccatogesang der Maschinengewehre und neuen Kriegs- und Siegesrufen anzustimmen.«9

Indem sich die 68er dieser todessüchtigen Gewaltideologie des Trikont-Propheten Che Guevara anschlossen, verlangten sie also nicht nach weniger, sondern nach mehr Krieg, nicht nach weniger, sondern nach mehr Opfern.

Was veranlaßte junge antifaschistische Linke in Deutschland zwanzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus, begeistert in eine solche Rhetorik des totalen Krieges einzustimmen? Die Vermutung liegt nahe, daß mit dem apokalyptischen Antiamerikanismus der 68er unbewußt auch deutsche Ressentiments gegen die Sieger des Zweiten Weltkriegs ausgelebt wurden. Die 68er, meint Gesine Schwan, »trugen damit z.T. das undemokratische Erbe ihrer bildungsbürgerlichen Eltern ab, denen die USA trotz des offiziellen politischen Proamerikanismus als Hort westlicher materialistischer Dekadenz und als zweimal demütigende Supermacht durchaus zuwider war, unbewußt fort. Wie eng sie bei aller Rebellion in die Demütigungserfahrungen ihrer Eltern verwickelt waren, zeigte der ganz irrige Anti-Vietnamkrieg-Slogan: USA-SA-SS. Der Reeducation-Macht wurde hier gezeigt, was eine Harke ist. Ohne es zu merken, versuchten sie mit diesem Spruch eine Entlastung ihrer Eltern.«10

Hinzu kam jedoch noch die Sehnsucht nach der totalen Identifikation mit einer absolut guten Sache, die Bewunderung für die totale Hingabe an ein unbezweifelbares Ideal. Gerd Koenen weist in seinem Buch Die großen Gesänge darauf hin, in welchem Maße ein vollständig irrationaler Führer- und Opferkult das Bewußtsein der 68er-Revolte prägte. Freilich blieb dieser Kult in seltsamer Weise auf sekundäre Erfahrungen und medial vermittelte Bilder gestützt. »In dieser Hinsicht«, schreibt Koenen, »war die ganze 68er Bewegung bereits eine höchst postmoderne Affäre; Bilder und Zeichen, Codes und Köpfe, Formeln und Reizwörter spielten in ihr eine weitaus größere Rolle als materielle Interessen, politische Programme und präzise Begriffe.

(...) Auch die politische Bewegung definierte sich, mehr als sie zugab, über ihr mediales Abbild. Und das hieß wieder vor allem: Bilder und Köpfe. DUTSCHKE, wie er unter der Inschrift ,Schafft zwei, drei, viele Vietnam<193>` seinen Kopf zu Gaston Salvatore neigt wie zum ersten seiner Jünger. (<193>) Oder KRAHL, wie er mit schiefäugiger Eloquenz den Präzeptor Habermas (<193>) als opportunistisches bürgerliches Subjekt entlarvt. - Fluten von Bildern, Worten, Tönen und Zeichen, die jedem eigentlichen Gedanken oder artikulierten Interesse vorausgingen.«11

Vielleicht war es aber gerade das Unbehagen an dieser Befangenheit in der sekundären Welt der Bilder, die das Bedürfnis nach der unbedingten, einfachen Lösung so radikal machte. Die Projektionen der 68er entluden sich jedenfalls in einen militanten Verbal- und Realaktivismus. Auch hierbei war es nicht zuletzt Enzensberger, der den Ton angab. »Die winzigste politische Handlung«, schrieb er im Januar 1968 im Kursbuch, »kann unter den Verhältnissen, mit denen wir es zu tun haben, zu neuen Erkenntnissen führen. Selbst scheinbar zweideutige, blinde, ja unsinnige Aktionen kleinster Gruppen haben in der letzten Zeit Ereignisse ausgelöst, deren Signalcharakter unbestreitbar ist.« Und Enzensberger weiter: »Keine abstrakte Einsicht in den repressiven Charakter des Systems kann die physische Erfahrung der Unterdrückung ersetzen. Polizei, Justiz und Geheimdienst sind die wichtigsten Freunde und Helfer der Systemopposition.«12

Mit anderen Worten: Radikale Aktionen müßten darauf zielen, eine verschärfte Repression von seiten des Systems zu provozieren und damit dessen wirklichen Charakter offenzulegen. Wie auch bei Lettaus Prophezeiung, das amerikanische System werde die Massenproteste der Bevölkerung nicht mehr lange dulden können, klingt dieser Ruf nach der Repression geradzu wie eine Beschwörung, das Projektionsbild des neuen Faschismus möge endlich Realität werden: ein makaberer Schrei nach Unmittelbarkeit. Die zitierten Sätze Enzensbergers nehmen in nucebereits die Gewaltphilosophie der späteren Roten Armee Fraktion und anderer bewaffneter Gruppen wie der »Bewegung 2. Juni« vorweg: Die Terroranschläge sollten das System dazu zwingen, den Schleier repressiver Toleranz fortzureißen und seine wahre, brutale Fratze zu enthüllen. (In konsequenter Verfolgung der Theorie von der amerikanischen Weltverschwörung wurde der deutsche Terrorismus übrigens mit amerikanischem Blut aus der Taufe gehoben: Die ersten Bombenanschläge der RAF im Mai 1972 galten amerikanischen Militäreinrichtungen. Dabei wurden insgesamt vier US-Soldaten und Offiziere getötet). Vor der Einsicht in seine Mitverantwortung für diese schaurigen Folgen von 1968 schützt Enzensberger auch die Tatsache nicht, daß er derartige potentielle Konsequenzen seines verantwortungslosen Verbalradikalismus wohl kaum vorausgesehen und gewollt hat. Eine Ausrede kann dies schon gar nicht für eine Generation sein, deren moralischer Impetus sich aus der Weigerung speiste, ähnlich strukturierte Ausreden aus dem Munde ihrer Elterngeneration hinzunehmen. Auch Interpretationen, nach denen es sich bei solchen Gewaltphantasien um bloße drastische Zeitdiagnostik oder um surrealistisch-situationistische Künstlerphantasien gehandelt hätte, können kaum überzeugen. Enzensberger verstand seine scharf geschliffenen Sätze eindeutig als konkrete politische Lageeinschätzungen. Unzweideutig erklärte er im Kursbuch: »Die Verfassung ist ein Versprechen, das die herrschende Klasse weder halten kann noch halten will. Nur die Revolution kann es einlösen.«13

Romantik und Realität der »Kulturrevolution«

Daß führende Köpfe der 68er Bewegung das System der westlichen Demokratien mit einem wie auch immer gearteten Faschismus verwechselten, dessen verbrecherische Weltherrschaft nur durch eine gewaltsame weltweite Revolution verhindert werden könne, war aber nicht einmal ihr verhängnisvollster Irrtum. Weit gravierender als ihr »blinder Antiamerikanismus« war noch ihre Blindheit gegenüber der realen Praxis jener »antiimperialistischen« Ideologien und Systeme, mit denen sie sich identifizierten. Zur selben Zeit, da Lettau und Enzensberger behaupteten, die Politik der westlichen Demokratien sei mit dem »täglichen Verbrechen« identisch geworden, tobten in China die Säuberungen der »Großen Kulturrevolution«, die von Mao Tse-tung zwecks Aufrichtung seiner persönlichen Diktatur in Gang gesetzt worden waren. Nach offiziellen chinesischen Angaben, die 1980 veröffentlicht wurden, sind während der Kulturrevolution 729.511 Personen, wie es heißt, »zu Unrecht beschuldigt und verfolgt« und 34.800 ermordet worden. Glaubhafte Schätzungen sprechen jedoch von bis zu 400.000 Todesopfern. Dazu kamen noch die Opfer der schweren Hungersnöte, die als Folge der bürgerkriegsähnlichen Zustände ausbrachen. Hunderttausende sollen sich den öffentlichen Demütigungen und Folterungen durch die Roten Garden durch Selbstmord entzogen haben. Zu den beliebtesten öffentlichen Foltermethoden der Roten Garden zählte das sogenannte »Flugzeug«: Der Delinquent mußte sich mit weit gespreizten Beinen, nach vorne gebückt und mit ausgebreiteten, nach oben gedrückten Armen hinstellen und oft stundenlang in dieser Position ausharren. Dabei wurde er beschimpft, schwer geschlagen und getreten. Viele der Opfer behielten körperliche Dauerschäden und Lähmungen zurück, von den seelischen Schäden nicht zu reden. Diese Horrorrituale fanden, wie gesagt, in aller Öffentlichkeit statt.

Die 68er konnten es, wollten es aber nicht sehen. Statt dessen feierte im Kursbuch der Sinologe Joachim Schickel die Kulturrevolution ein ums andere Mal als epochalen Aufbruch in eine neue, nicht mehr entfremdete Zivilisation. Unumwunden machte er deutlich, das Ziel der Kulturrevolution sei »Wandel der Zivilisation, insbesondere Negierung der westlichen«.14

Ihre romantisch verklärte Vorstellung von »Kulturrevolution« versuchten Autoren wie Peter Schneider auf die Verhältnisse in den westlichen Gesellschaften zu übertragen. Unter dem Titel »Die Phantasie im Spätkapitalismus und die Kulturrevolution« schrieb Schneider im März 1969 im Kursbuch: »Die Revolution sagt: Jeder Mensch hat das Recht auf ein eigenes Zimmer in seiner Stadt, die Kulturrevolution: jeder Mensch hat das Recht auf jedes Zimmer in jeder Stadt. Die Revolution: alle Menschen sollen essen und wenig arbeiten, die Kulturrevolution: im Namen welcher Bedürfnisse? Die Revolution: schaffen wir solche Verhältnisse, daß jeder Anteil am Werk Picassos nehmen kann. Die Kulturrevolution: Schaffen wir solche Verhältnisse, daß jeder ein Picasso und Picasso jeder werden kann.«15

Dieses Programm mutet wie eine schillernde Mischung aus Novalis, Marx und Mao Tse-tung an. Die romantische Sehnsucht nach Verschmelzung des einzelnen mit dem Ganzen und der Kunst mit dem Leben drapiert sich mit sozialrevolutionärem Gleichheitspathos und präsentiert sich im Gestus der revolutionären Direktive. Angesichts dieses Konglomerats stellt sich die Frage, ob die Bewegung von 68 nicht als eine Aufwallung in der deutschen politischen Romantik unter modernisierten Vorzeichen verstanden werden muß. Mit diesem Erbe verband sie ihr unerbittlicher Idealismus, ihre schwärmerische Sehnsucht nach Ganzheit und ihr grenzenloses Unverständnis für die zivilen Verfahrensregeln, die in der liberalen Gesellschaft als Sicherungen gegen den zerstörerischen Wunsch nach Realisierung eines absolut gesetzten Guten fungieren.

Die politische Ideologie von 1968 zielte nicht nur auf den radikalen Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch auf die fundamentale Umwälzung der Werte und Prinzipien der liberalen Zivilisation des Westens. Die 68er waren nicht radikale Kritiker der Entstellungen liberaler Ideale durch die praktizierte demokratische Macht; sie waren politische Feinde der liberalen Demokratie als solcher. Sie waren bereit, ihre mit grotesk anmutender Gläubigkeit vorgetragenen Utopien von einer durch keine Arbeitsteilung und keine repräsentativen Institutionen entfremdeten »direkten Produzentendemokratie« (so Rudi Dutschke 1968)16 notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Obwohl einige ihrer maßgeblichen Sprecher (namentlich Rudi Dutschke) beteuerten, ihre Revolution werde ohne Unterdrückung und Umerziehungslager auskommen und auf einen »langfristigen Lernprozeß« der selbstorganisierten Produzenten verwiesen, der staatliche Repression überflüssig machen werde17, identifizierten sie sich sehr weitgehend mit Ideologien und Systemen, in denen die Menschenrechte außer Kraft gesetzt waren und in denen Massenverfolgung, organisierter staatlicher Mord, Folter und Entwürdigung zur selbstverständlichen Praxis gehörten.18 Ob die Wortführer von 1968 zu ähnlichen Mitteln gegriffen hätten, wären sie jemals in die Lage gekommen, ihre Utopien zu realisieren - diese Probe aufs Exempel ist uns glücklicherweise erspart geblieben. Am meisten von Glück reden können da wohl die »68er« selbst. Der Beitrag von Richard Herzinger entstand im Rahmen der Foren »Geschichte und heutiger Kontext des Antifaschismus« der literaturWERKstattberlin. - Der hier redaktionell gekürzte Artikel erscheint vollständig in:

Der Beitrag von Richard Herzinger entstand im Rahmen der Foren "Geschichte und heutiger Kontext des Antifaschismus" der literaturWERKstattberlin. - Der hier redaktionell gekürzte Artikel erscheint vollständig in:

»Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag. Antifaschismus. Geschichte und Neubewertung«, Aufbau Taschenbuch Verlag Berlin.

1 Vgl. dazu den rechten Bekenntnisband Die selbstbewußte Nation. »Anschwellender Bocksgesang« und andere Beiträge zu einer deutschen Debatte. Hrsg. v. Heimo Schwilk und Ulrich Schacht, Berlin 1994.

2 Gesine Schwan: Die Auswirkungen von 1968 auf die deutsche politische Kultur. In: Eichholz-Brief. Zeitschrift zur politischen Bildung, Heft 3/1994, S. 15-24, hier: S. 24.

3 Zit. n. Klaus Peter: »Supermacht USA. Hans Magnus Enzensberger über Amerika, Politik und Verbrechen«; in: Sigrid Bauschinger, Horst Denkler und Wilfried Malsch (Hrsg.): Amerika in der deutschen Literatur, Stuttgart 1975, S. 374.

4 Reinhard Lettau: »Täglicher Faschismus. Evidenz aus fünf Monaten«, in: Kursbuch 22, Dezember 1970, S. 1-44, hier: S. 2.

5 Hans Magnus Enzensberger: Politik und Verbrechen. Neun Beiträge, Frankfurt am Main 1964.

6 Hannah Arendt/Hans Magnus Enzensberger: Ein Briefwechsel. In: Reinhard Grimm (Hrsg.): Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1984, S. 82-89.

7 Ein Gespräch über die Zukunft mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler; in: Kursbuch 14, August 1968, S. 146-174.

8 Zit. n. Andrew Sinclair: Che Guevara, München 1970, S. 104.

9 Ebenda, S. 105.

10 Gesine Schwan, Die Auswirkungen von 1968 auf die deutsche politische Kultur, a. a. O., S. 19.

11 Gerd Koenen: Die Großen Gesänge, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1993, S. 452.

12 Hans Magnus Enzensberger: »Berliner Gemeinplätze«, in: Kursbuch 11, Januar 1968, S. 151-169, hier: S. 164 f.

13 Ebenda, S. 165.

14 Joachim Schickel: »Dialektik in China. Mao Tse Tung und die Große Kulturrevolution«, in: Kursbuch 9, Juni 1967, S. 45-129, hier: S. 108 f.

15 Peter Schneider: »Die Phantasie im Spätkapitalismus und die Kulturrevolution«, in: Kursbuch 16, März 1969, S. 1-37, hier: S. 4. Peter Schneider hat sich mit diesem Text später selbstkritisch auseinandergesetzt. Vgl. Peter Schneider: Atempause. Versuch, meine Gedanken über Literatur und Kunst zu ordnen, Reinbek bei Hamburg 1977, S. 229 ff. Schneider hat sich später noch eindeutiger zu den totalitären Implikationen seiner früheren Utopien geäußert.

16 Ein Gespräch über die Zukunft mit Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler, a. a. O., S. 147.

17 Ebenda, S. 170 ff.

18 Christian Semler gründete Anfang der siebziger Jahre die maoistische »KPD«, die sich auf Stalin berief und »brüderliche Beziehungen« zu den Kommunistischen Parteien in China, Nordkorea und Albanien unterhielt. Rudi Dutschke und Bernd Rabehl dagegen gingen im Verlauf der siebziger Jahre auf zunehmende Distanz zu allen Varianten des real existierenden Sozialismus.