»Preußen ist in der Idee untergegangen, daß es glaubte, Politik und Strategie voneinander trennen zu können. - Die Wissenschaft ist eins, wie die Tugend eins ist.«
Christian von Massenbach
In einer Besprechung in der FAZ vom 12.06. unter dem Titel "Ausgehöhlte Schlagkraft" wird ein Buch zum Thema "Inside Hitler's High Command" behandelt; hervorgehoben wird darin die Beantwortung der Frage, die über die Leistungsfähigkeit deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg hinausreicht und den Kern dessen antastet, worin die Gründe für das Scheitern preußisch-deutscher Politik seit der Preisgabe des deutschen Reiches durch das Haus Habsburg zu suchen sein könnten: "Seitdem sich der preußische Generalstab im 19. Jahrhundert formiert hatte, waren es die Generalstabsoffiziere, die sowohl in den deutschen Einigungskriegen wie auch im Ersten Weltkrieg eine maßgebliche Rolle gespielt hatten, vielleicht sogar die entscheidende. Das war das erste Mal gutgegangen, das zweite Mal aber - beim Beginn des Ersten Weltkriegs und während der 'Diktatur' Hindenburgs und Ludendorffs - war es gründlich mißlungen."
Der Verfasser der Rezension hat einige Einwände gegen Darstellungen und Schlußfolgerungen des Buchautors Geoffrey P. Megargee vorzubringen, kommt aber dennoch in seinem letzten Absatz zu einer zustimmenden Zusammenfassung:
"Das ändert nichts daran, daß Megargee eine erste moderne Zusammenfassung zur Geschichte der Wehrmachtführung vorgelegt hat. Aufs Ganze gesehen, bestätigt sie nur das bekannte Diktum jenes jungen Stabsoffiziers, der bereits im Frühjahr 1941 meinte, die deutsche Kriegsspitzengliederung sei 'noch blöder, als die befähigtsten Generalstabsoffiziere sie erfinden könnten, wenn sie den Auftrag bekämen, die unsinnigste Kriegsspitzengliederung zu erfinden'. Auch diese Einsicht hatte vermutlich Folgen für das weitere Handeln des damaligen Majors im Generalstab von Stauffenberg.
Der junge Stabsoffizier schleuderte diesen Geistesblitz in einem Jahr, in dem der "Oberste Befehlshaber der Wehrmacht" zwei Kriege beginnen sollte, die seine Wehrmacht gar nicht gewinnen konnte: den einen begann er unerklärt als Überfall im Juni 1941, den andern im Dezember 1941 erklärte er zwar, konnte ihn aber gar nicht führen, weil er unter anderm gar nicht wußte, wo eigentlich in einem Krieg gegen die Vereinigten Staaten von Amerika letztlich die Front verlaufen würde. Nicht allein war nach Stauffenberg die Kriegsspitzengliederung "blöd", im Fall der Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten konnte man wohl kaum ein Kriegsziel finden - es sei denn, Hitler hätte insgeheim den Lebensraum Nordamerikas für eine massenhafte Auswanderung von Deutschen und andern Europäern ("nach dem gewonnenen Krieg") unterwerfen wollen, die sein Wahn-Regime hervortreiben mußte.
Ein anderer Süddeutscher im Dienste der "preußischen Sendung", Christian von Massenbach , fand vor 200 Jahren annähernd dieselben Zustände, vielleicht noch erbärmlicher, in der Militärführung vor. Seine so genialen wie streitbaren, seine öffentlichen wie vertraulichen Bemühungen, der Sklerose des politischen und militärischen Denkens in Preußen zu widerstehen und Preußens Untergang in der Einzwängung zwischen einem globalistischen Britannien, dem bonapartistischen Frankreich und dem noch nicht ganz europäisierten, aber auch noch nicht eurasisch ausgedehnten Rußland abzuwenden, ließen ihn als ersten der von Friedrich II. in dessen letzten Jahren ins Offizierskorps geworbenen hervorragenden jungen Offiziere überhaupt den Gedanken eines Generalquartiermeisterstabes fassen, in dem die zur Synergie zusammengefaßte Intelligenz der Offiziere in diesem Generalstab all die Klüfte und Lücken zu schließen hätte, die das Ableben der absoluten politischen und militärischen Willkür als Vermögen nach dem Tode Friedrichs hinterlassen hatte.
Das Ende der Regierung König Friedrichs II. trug das Gepräge des Alters. Die Hinfälligkeit aller menschlichen Größe offenbarte sich auch an Ihm! Dieser mit Kraft und Einsicht herrschende König hat die vorhandenen Staatsorgane zerstört, und durch die eingeführte Kabinettsregierung bei seinen Nachfolgern die einseitige Behandlung der Staatsgeschäfte veranlaßt. In seinen Finanzeinrichtungen lag der dem Ausbruche nahe Keim eines krebsartigen Beinfraßes, der das Lebensprincip des Staates vernichten mußte.
Die Erziehung seiner Nachfolger hat dieser König nicht nach einer großen Idee geleitet, selbst vernachlässigt hat er diese heilige Pflicht; den Neffen hat Friedrich nicht mit liebevoller Achtung zu sich heraufgezogen, und die Bildung des Enkels hat er dem Trübsinn eines kränkelnden Mannes und der Geistesschwäche eines Greises anvertraut.
Massenbach, Historische Denkwürdigkeiten
In den Historischen Denkwürdigkeiten - zur Geschichte des Verfalls des preußischen Staates seit dem Jahre 1794, veröffentlicht 1808, die zugleich geschichtlicher Bericht und Analyse der "Staatshandlungen" aus subjektiver Sicht als auch Berichterstattung des Denkens und Handelns eines an diesem "Staatshandeln" beteiligten Individuums sind, die also die Ansichten eines teilnehmenden Beobachters mit denen eines beobachtenden Mitwirkenden vereinigen, schlägt der Blitz des Gedankens so erhellend in die überkommene Selbstgefälligkeit der Schlachtbeschreibungen ein, daß der Donner wie bei Heine nur ein deutscher sein konnte: Was von Massenbach heute als bekannt vorausgesetzt zu werden pflegt, ist einzig und allen Ernstes die Tatsache, daß es sein Rat an den Fürsten von Hohenlohe war, der zur Kapitulation von Prenzlau 1806 führte. Alles, was sonst von diesem Mann geschrieben und getan wurde, alles was sonst zu diesem Mann zu sagen wäre, ist seit beinahe zweihundert Jahren vergessen und vergessen gemacht worden. Massenbach als geistige Gestalt und Charakter wurde schon zu seinen Lebzeiten, als er bei Hofe noch nicht vollständig in Ungnade gefallen war, verdrängt. Erst recht aber von jenem Moment an, als sich die Geschichtsschreiber und Biographen über ihn hermachten. So viel Unwissenheit, Verunglimpfung und Verleumdung ist selbst über Marx nicht ausgeschüttet worden, den der preußische Staat auch aus seinem "Verband" gedrängt hat, dessen geistige Hervorbringungen aber alle Zensur nicht vom Einfließen in das Denken in Deutschland abhalten konnte.
Wenn Politik die "Kunst des Möglichen" sein soll, dann legt der Fall Massenbach den Schluß nahe, daß sie im bismärckischen Deutschland noch zur "Kunst der größtmöglichen Verdrängung" gesteigert werden konnte. Selbst die Neuveröffentlichung der Historischen Denkwürdigkeiten durch den Historiker Hans-Werner Engels und den Verlag Zweitausendeins im Jahre 1979 hat sich zwar gut verkauft und nimmt in vielen Bücherregalen genau 35mm breiten Platz ein, aber Besprechungen dazu, gar aus "Fachkreisen", sind nach Angaben des Initiators dieser Ausgabe nicht bekannt geworden. Eine noch höhere Auflage hat "Massenbach - Historische Revue" von Arno Schmidt (zuletzt Fischer Taschenbuch, Frankfurt 1997) erzielt; von Arno Schmidts Ausgrabungsarbeiten zu diesem vergessenen Europäer kam für Hans-Werner Engels auch der Anstoß zur Herausgabe vor allem der Denkwürdigkeiten bei Zweitausendeins.
Vielleicht ist dies so verwunderlich gar nicht, wenn man sich zurückerinnert, daß das Jahr der Veröffentlichung auch das Jahr des sogenannten "Doppelbeschlusses" war und dieser Beschluß auch verantwortungsbewußten Amtsträgern mit bestens geschultem militärischen Verstand wie Helmut Schmidt einige "Kunst der größtmöglichen Verdrängung" aufzwang, um aus der schizophrenen Bedrohungslage der beiden Teile Deutschlands einen pragmatischen Ausweg zu finden. Die Arbeit an der Lösung, die der vormalige Bundeskanzler für dieses Dilemma erdacht hatte, auch selbst herbeizuführen war ihm nicht beschieden: Er wurde von einem abgelöst, der ihm an Kraft wie an Schlichtheit im Verdrängen nicht nur wegen seiner Gardemaße über war. Dessen Wahrnehmung der deutsch-französischen Freundschaft, im Unterschied zu der zwischen Adenauer und de Gaulle oder Schmidt und Giscard d`Estaing, gipfelte darin, daß er wünschte und zuließ, daß der Präsident des französischen Staates den Abgeordneten des westdeutschen Bundestages kategorisch erklärte, daß sie die Stationierung der amerikanischen Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden ebenso hinnehmen müßten wie die Tatsache der Ausrichtung eines Teils der französischen Nuklearraketen auf Westdeutschland. Größere Höhen konnte die "Kunst der größtmöglichen Verdrängung" der wirklichen Bedrohungslage Deutschlands de tous azimuts in Europa in keiner Nationalvertretung erreichen.
"Womöglich muß man seine Hauptkraft auf einen Punkt richten, und diesen Punkt zum Haupt des Ganzen machen." Scharnhorst
Was immer am Ungestüm, an der Streitbarkeit, vielleicht auch an der Überanpassung an Kategorien des altpreußisch-absolutistischen Militärverstandes in den Denkwürdigkeiten gerügt werden könnte, Massenbach brauchte das angeführte Aperçu Scharnhorstschen Strategiedenkens nicht erst zu lernen; im Gegenteil, der Unterschied und Gegensatz zwischen diesen beiden Protagonisten der Umwälzung des Generalquartiermeisterstabes in Preußen bestand vor allem darin, daß Massenbach Politik und Strategie in den Staaten- und Kräfteverhältnissen ganz Europas zusammenzudenken vermochte und darum auf Maßnahmen und Veränderungen sann, die die Intelligenz des Staates, die Erkenntnis der geschichtlichen Lage in Raum und Zeit, auf einer gegebenen Fläche der Erdkugel (- seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird dies verflachend "Geopolitik" genannt -) zu verbessern geeignet gewesen wären.
Nirgendwo wurde in der postrevolutionären napoleonischen Epoche die aus dem spekulativen Denken abgeleitete Maxime Scharnhorsts, "sich über einen Punkt des Ganzen zu versichern", trefflicher zum Ausdruck gebracht als in dieser zwischenstaatlichen Lagebeschreibung Massenbachs:
Preußen trägt die unvertilgbare Schuld, am meisten dazu beigetragen zu haben, daß das Gleichgewicht Europens (le systeme de contre-poids) zerstört worden ist. Preußen konnte das Hypomochlion dieser Gegengewichte seyn. Wir werden sehen, daß es die Ehre, der Hort der Völker des europäischen Kontinents zu werden, schnöde von sich wies.
Und einige Abschnitte weiter die Schlußfolgerungen:
Von der steigenden Macht Preußens hing die Wohlfahrt des nördlichen Europas ab. Also, auf welche Seite sollte sich Preußen neigen, welches politische System sollte es befolgen, nachdem nun einmal der Friede zu Basel unterzeichnet worden war? Ich warf meine Blicke auf alle uns umgebenden Staaten, und betrachtete zuerst Rußland.
Rußland steht in engen Handlungsverbindungen mit England. Die britischen Fabrikate finden einen großen Markt in Rußland. Rußlands roher Waaren bedarf England. Kaiser Paul unterstützte die Unternehmungen der Engländer auf Holland mit einem nicht unbeträchtlichen Corps Truppen; die Unternehmungen der Oesterreicher in Italien mit einer ganzen Armee unter den Befehlen des berühmtesten seiner Feldherren.
Zwar löseten sich diese Verbindungen, als eine feine Politik Pauls Eitelkeit auf Malta, und diesen von Launen beherrschten Monarchen in das französische Interesse zog; aber eine fürchterliche Katastrophe, würdig der Greuelthaten der Prätorianer des alten Roms und der Schauderscenen des neuen Byzanz, stürzte diesen Monarchen von seinem Kaiserstuhl in eben die Gruft, in welcher sein Vater ruhte, und auf dem, von dem Blute zweier Kaiser rauchenden Throne, befestigte sich aufs neue das brittische Handlungsinteresse.
Mit Vergnügen sah Britanniens Uebermuth auf diese Scene des Mordes und auf die Flammen, die Nelson an den friedlichen Ufern des Sundes entzündet hatte. Die nordische Allianz konnte den Weltfrieden herbeiführen. Britannien will keinen Weltfrieden. England ist Frankreichs unversöhnlicher Feind, oder vielmehr, England hat Frankreich, hat der Welt den Untergang geschworen, weil England den Handel der Welt ungetheilt in seiner Gewalt behalten will.
Britanniens Absicht, alle Manufakturen des Kontinents zu zerstören, allein der Manufakturstaat Europas, so wie der Stapelplatz aller Kolonialwaaren zu seyn, untergräbt die Grundpfeiler der politischen Oekonomie aller Staaten. Denn, Zerstörung der Manufakturen streift dem Ackerbau die Blüthe ab, erstickt den Zuwachs der Bevölkerung im ersten Lebenskeim, und giebt das lebende Geschlecht dem Hungertode Preis.
Britannien ist also der Feind Preußens.
Massenbach, Historische Denkwürdigkeiten
Massenbach hatte den Punkt ermittelt, dem die Hauptkraft (auch die der staatlichen intelligence) zu gelten hatte. Alles, was zur strategischen Daseinsbehauptung Preußens und Deutschlands als System vorausgesetzt zu werden hatte, wird hier in einer Aufgabenstellung zusammengefaßt, die dem System der Politik der wechselnden balances of power seit Elisabeth I. das System einer Verankerung des europäischen Gleichgewichts in einem hypomochlion, einem vor allen Hebelangriffen zu schützenden archimedischen Punkt, entgegensetzte. Das war freilich eine Aufgabe, die die Intelligenz eines Staates als erweitertem Hof eines beschränkten Monarchen allein überfordern müßte, zumindest gemessen an den Herrschafts- und Organisationsverhältnissen eines absoluten Staates, in dem sich Massenbach wiederfand und aus dem er sein Leben lang herausstrebte. Es war auch eine Aufgabe, deren Tragweite ein Scharnhorst vermöge seiner Herkunft aus Hannöverschen Verhältnissen gar nicht wahrnehmen konnte und die er bei seiner selbstgestellten Aufgabe, der Umwälzung der Heeresverfassung, niemals in Erwägung gezogen und als ins Reich des Schwadronierens und Spekulierens gehörig vermutlich beizeiten verdrängt hat. Auch Leibniz als Denker des europäischen Gleichgewichts des Friedens war in Hannover wie in Preußen schon ein Jahrhundert nach Gründung der Akademie in Vergessenheit geraten.
Ein organisiertes Gebilde, das als Eigengewicht und tragende Grundlage zugleich in einem Punkt allen Hebelangriffen und -ansätzen in seinem Fließgleichgewicht gewachsen sein soll, muß frei von allen das Gemeinwesen bedingenden Kräfteschwankungen handeln und sich allseitig auf seiner menschlichen Substanz entfalten können, die in ihrer Verfaßtheit dem cusanischen possest Raum und Zeit zur Entfaltung läßt. Nur diese Freiheit, die Erfindungen der Poiesis und die daraus fließenden, der Natur angemessenen Taten der menschlichen Winzlinge im Universum, ist wirkliche Macht, menschliches Vermögen.
Die Quelle aller Versuche ermittelt zu haben, das britannische (oder venezianische) Prinzip der Gegeneinanderlagerung von Kräften und Streitkräften der Gemeinwesen zum Zwecke der Beherrschung von einem Punkt, und seine Verortung dort, wo "England den Handel der Welt ungeteilt in seiner Gewalt behalten will", ist das eine, ein hypomochlion in einer wiederherzustellenden "harmonie preétablie" zu finden das ganz andere, der Richtpunkt einer niemals endenden Bestrebung.
Das britannische Prinzip oder System hat es da leichter. Insbesondere, wenn sich in unseren Tagen ein prominentes Mitglied des Kronrates über die Stellung des Kernlandes des zum Commonwealth transformierten Empire mit Genugtuung wie folgt äußern kann:
Britain's new role ... is to use the strengths of our history to build our future not as a superpower, but as a pivotal power, as a power that is at the crux of the alliances and international politics which shape the world and its future.... Britain's potential strengths are clear, in some ways unique.... First, our formidable network of international contacts. Our extraordinarily close relations with nations in every part of the globe through the Commonwealth... the UN Security Council, of NATO and the G-8. The close relationship forged through two world wars with the USA. And our crucial membership of the European Union. We are at the pivot of all these inter-connecting alliances and groupings.
(Tony Blair in einer Ansprache beim Bankett des Lord Mayor of London in der Guildhall in der City von London am 22. Nov. 1999)
Zur entscheidenden Rolle der City of London bei der Behauptung britannischer Macht, bei fortschreitender Globalisierung, fiel ihm noch ein weiterer spin ein:
One and a half trillion dollars are traded every day on the world's currency exchanges, of which by far the biggest is right here in the City of London, which is bigger than the Tokyo and New York markets put together.
Diese Beschreibung der Rolle Britanniens weicht nicht allzu sehr von der Skizze mit den drei konzentrischen Kreisen ab, die Churchill 1953 dem Gast Konrad Adenauer auf ein Kärtchen malte, um ihm die internationale Position seines Landes, gelegen im Schnittpunkt dreier Kraftfelder: Commonwealth, Vereintes Europa und Vereinigte Staaten zu demonstrieren.
Wie man weiß, sind Briten in der Kunst der Untertreibung wie auch des Aufschneidens im richtigen Moment Meister. Churchill wußte Adenauer, den Regierungschef eines Landes, dessen Städte er 10 Jahre zuvor in Schutt und Asche hatte bombardieren lassen, zu beeindrucken, denn Adenauer notierte sich für seine Erinnerungen: "An dieser Haltung Großbritanniens hat sich nichts geändert." Da muß man dem Gründungskanzler wohl Recht geben, doch wie sah damals die Verfassung Britanniens wirklich aus und wie steht heute das Vereinigte Königreich auf der Insel da? Mit der Regierungsvariante des Blairism, werden sich die "devolution" auf das Kernland des Commonwealth, England, und die "involution" der Monarchie auf ein die Gazetten nährendes permanent entertainment so lange dahinschleppen, bis das Haus Windsor, wie kurze Momente vor und nach der Trauerfeier für Diana Spencer, sich von einem republikanisch gestimmten Volk in den Ruhestand schicken läßt. Was bliebe, wenn die verbleibenden Einrichtungen des Government nicht die Möglichkeit hätten, von einem "pivot" zum anderen zu hasten und sich nach und nach stets wechselnde Hüte aufzusetzen, wie sie Tony Blair in verschwenderischer Vielzahl aneinanderreiht? Der britannische Erfindungsgeist, der die Fähigkeit besitzt, Traditionen für Institutionen schon zu pflegen, noch bevor sie "established" sind, käme gar nicht mehr nach, um den Zerfallsprodukten des kunstvoll errichteten Gebäudes der imperial majesty die nominalistische Weihe zu verleihen.
Die britannische Oligarchie, die City of London muß sich zum ersten Mal seit 1588 die Frage stellen (und sehr bald beantworten), ob sie, wenn auch nur für eine Übergangszeit, die Beherrschung der globalen Geld- und Rohstoffzirkulation mit einer europäischen Macht, mit der Macht Europa, zu teilen bereit ist (selbstredend mit dem Ziel "to take over the shop some day") und dafür Institutionen preisgibt, mit denen dieses venezianische System nicht zuletzt die Herrschaft über die Insel der Engländer, Schotten, Waliser und auch Iren ausübt.
Klar ist den Befürwortern eines Beitritts zur Euro-Währung in London aber auch, daß das Gewicht Englands im "Euroland" nur dann geltend gemacht werden kann, wenn auch nach einem Beitritt der City alle anderen Kraftfelder, in denen sich London als "pivot" ansieht, in der robustesten Form als britannisches System im erweiterten Europa zur Anwendung kommen können - und das heißt: Verlagerung der "balance of power" ins Innere der europäischen Institutionen der Zusammenarbeit hinein. Nicht vor allem, wie Helmut Schmidt in DIE ZEIT Nr. 24 befürchtet, durch die schleichende Desintegration durch ein Dutzend neue Mitglieder, sondern mehr noch durch den Beitritt des Finanzmachtkonglomerats City würde die Rückkehr zur balance of power zwischen Staaten und die Durchherrschung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Europa nach den Axiomen des Freihandels beschleunigt. Das britannische Handelsinteresse, der in London ansässige Kaufmann und Bankier kann einfach nicht anders, wie eben Massenbach als erster klar genug entdeckt und auch ausgesprochen hat.
Es wird die Aufgabe deutscher Politik und Strategie in Europa und mit den europäischen Nachbarn sein, zu verhindern, daß das Um-Sich-Greifen des britannischen Prinzips im binneneuropäischen Rechtsraum die Annäherung der deutschen Republik an den Punkt unterbricht, wo Deutschland zum "Hypomochlion der Gegengewichte" werden könnte. Das Kernland des Empire (pardon: Commonwealth), des immerhin noch an Fläche und an als Kapital verwertbarem Vermögen reichsten Machtkonglomerats auf diesem Globus, wird sich entweder als Gleiches in das vereinigte Europa der verfaßten Nationalstaaten einordnen oder seine Sonne sinken sehen. Und dann wird sich auch mit Fug und Recht sagen lassen, was der Koordinator für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit, Karsten Voigt, für die Gegenwart schon behauptet: "Deutschland ist heute nicht länger Konsument, sondern - im Rahmen von EU und NATO - Produzent von Sicherheit und Stabilität in Europa."
Diese Behauptung, aufgestellt vor dem Krieg der NATO gegen Jugoslawien, muß unter anderem deswegen im Laufe der letzten beiden Jahre fragwürdig erscheinen, als nichts davon zu bemerken ist, daß die deutsche internationale Politik den selbstentworfenen und in der Endphase des Bombenkrieges um den Kosovo in Umlauf gebrachten "Stabilitätspakt für Südosteuropa" seiner Verwirklichung bisher auch nur einen Schritt nähergebracht hätte. Denn Stabilität für Südosteuropa hätte am Ende des Balkan-Bombenkrieges und danach vor allem eine massive und rasche Bereitstellung von Finanzmitteln zum Wiederaufbau der gesamten Donau- bzw. Balkanregion zur Voraussetzung gehabt. Ein Plan zum Wiederaufbau, der nur für einige Tage nach Kriegsende öffentlich von der Kreditanstalt für Wiederaufbau vorgelegt worden war, ist im Meer der Verschwiegenheit kurz darauf verschwunden. Auf wessen Geheiß? Mit welcher Furcht vor einer finanziell möglichen und durchdachten Konzeption des Wiederaufbaus eines durch Krieg oder Auszehrung zerstörten Wirtschaftsraumes? Einer Konzeption, die schon, angewandt auf das Beispiel Polens, Alfred Herrhausen kurz vor seiner Ermordung mit Vehemenz und Überzeugungskraft ins Gespräch gebracht hatte?
Mit einer tatsächlich durchorganisierten Wiederaufbauinitiative nach dem Vorbild des Marshall-Plans (- wie sie auch der damalige Präsident Clinton in einer Rede vor dem amerikanischen Verband der Zeitungsherausgeber als Erwartung an die europäischen Staaten ausgesprochen hatte -) hätte sowohl das Problem Milosevic rascher bewältigt werden können als auch das Aufflammen eines Bürgerkrieges in Mazedonien, in dem die NATO jetzt mit Zustimmung der feindlichen Parteien die Waffen "einsammeln" will, deren Umschlag in die Hände von Leuten, die den brüchigen Staat Mazedonien sprengen wollen, sie hätte unterbinden können und müssen. Mazedonien (den "Mazedonen" wie den Albanern), ohnehin nie zu mehr benötigt denn als Brückenkopf und Nachschubgebiet für "Aufsichtstruppen", wurde seine bedingungslose Unterstützung der NATO schlecht gelohnt. Die Verbalkanung der NATO läßt seltsame Einsatzarten aufwachsen: Von der Parteinahme in einem Bürgerkrieg mit Bomben bis zum einvernehmlichen Einsammeln von Feuerwaffen und leichter Artillerie bietet der NATO-Rat im Rahmen seiner "neuen strategischen Aufgabenstellung" einen bunten Strauß an militärischen Beschäftigungsmaßnahmen, deren auch nur asymptotische Berührung mit den Grundlagen des Bündnisses im Artikel 5 des NATO-Vertrages schwer zu entdecken ist. Das Bundesverfassungsgericht, das sich gemeinhin nicht gern zu Inhalten des Regierungshandelns äußert (wie im Beschluß zur Einführung des Euro), sondern nur zu verfassungskonformem Zustandekommen von Regierungsentscheidungen, sollte die Klage der PDS gegen das Übergehen des Parlaments beim Beginn des Krieges gegen Jugoslawien schon allein deswegen abschlägig bescheiden, weil es keinem Parlament nach den Erfahrungen mit Kriegsplänen und -führung und schließlich Kriegs- bzw Friedens zielen der NATO seit 1999 mehr zuzumuten ist, über solche Kuriosa ernsthaft zu beraten und zu befinden.
Mit dem Datum vom 9. Juli meldete der CDU- und Bundeswehr-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen eine Neuigkeit, die sowohl mit dem vergessenen Preußen Massenbach als auch mit den Irrungen und Wirrungen einer Teilnahme der Bundeswehr an einem Einsatz in Mazedonien zu tun hat. Es heißt dort, "die Bundeswehr besitzt erstmals seit ihrem Aufbau in den fünfziger Jahren die Fähigkeit, in eigener Verantwortung Operationen von Heer, Luftwaffe und Marine eigenständig zu planen, vorzubereiten und zu führen. Dazu ist das Einsatzführungskommando der Bundeswehr geschaffen worden ... Mit dem Einsatzführungskommando verfügt die Bundeswehr über einen operativen Führungsstab auf der Armee-Ebene, der in seinen Funktionen Aufgaben wahrnimmt, die in den früheren deutschen Armee vom Generalstab wahrgenommen wurden."
Der durchschnittliche Leser der FAZ kann nicht wissen noch beurteilen, inwiefern diese "Einsatzspitzengliederung" dem prüfenden Urteil eines Stauffenberg standhalten würde oder ob jener über die Art von Einsätzen, die da im bunten Reigen seit der Neuausrichtung der NATO in Erwägung gezogen werden, eher schmunzeln würde. Aber er hätte doch seinen Scharnhorst etwas genauer gekannt und ihm nicht ein solches Rendezvous als Ziel und Zweck der Reform der Heeresverfassung zugeschrieben wie der heutige Befehlshaber der Bundeswehr bei einem Festakt:
Gerhard von Scharnhorst - dessen Geburtstag wir in drei Tagen in Bordenau mit einem Feierlichen Gelöbnis aller drei Teilstreitkräfte festlich begehen - brachte den Grundgedanken der preußischen Militärreform knapp und treffend auf den Punkt: Es gehe darum, Armee und Volk noch inniger zu vereinigen.
Immerhin soll auch Baudissin die "innere Führung" und nicht die innige Führung gelehrt haben. So weit bekannt ist, lautete aber die Losung, die Scharnhorst zur Umwälzung der Kabinettskriegsführung, zur Reform der Heeresverfassung und zur Einstimmung auf den patriotischen Befreiungskrieg ausgegeben hatte: "Bündnis zwischen Regierung und Nation". Mehr als ein Bündnis mit der Nation scheint aber auch die Bundesregierung am Vorabend des Beschlusses zur Teilnahme am ersten Krieg der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr angestrebt zu haben. Sonst hätte sie zumindest versucht, auf der Ebene der psychologischen Kriegführung das eigene Volk mit mehr Wahrhaftigkeit in Form zu bringen als es dann dem deutschen Oberbefehl tatsächlich gelungen ist. Die Bundeswehr ist doch nach allem, was wir in den Schulen der Nation gelernt haben, mittlerweile über den genialen Scharnhorst hinaus und eher zu dem citoyens en armes oder dem American man-at-arms aufgerückt, und daher keine Organisation, in der sich eine Regierung mit ihrem Volk verbündet, sondern eine, in der das Volk sich zeitweilig oder auf Dauer bewaffnet hat, in der auf Zeit und nach Auftrag das Volk als Armee erscheint. Etwas anderes kann es in einer demokratischen Republik nicht geben. Niemand anders auch als das Volk in seiner rechtmäßigen Vertretung kann darüber entscheiden, ob deutsche Staatsbürger in einen Krieg oder einen kriegsnahen Einsatz ziehen müssen und dabei in einer Kriegshandlung oder bei irgendeinem Randzwischenfall ihr Leben oder ihre körperliche Unversehrtheit verlieren könnten.
Wenn schon die heutige politische Führung der Bundeswehr den Kern der preußischen Heeresreform Anfang des neunzehnten Jahrhunderts nicht so genau zu formulieren weiß, so sollte man vielleicht aus Anlaß einer so wichtigen Neuerung wie der Bildung eines Quasi-Generalstabes in der Bundeswehr noch einmal auf die wichtigste Leistung des Christian von Massenbach zurückkommen, die genauso wie er selbst völlig in Vergessenheit geraten oder von der Geschichtsschreibung aus Rancune verdrängt worden ist: Massenbach ist der Erfinder der Idee des Generalstabes und sein erster, wenn auch nur in Teilen erfolgreicher Geburtshelfer! Wie kann das angehen? Wieso weiß das niemand oder will das niemand wissen? Ist das heute überhaupt von Bedeutung oder lediglich das eigenbrötlerische Steckenpferd eines Zuviel-Lesers? Sehen wir zu: Laut Auskunft des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Abteilung Militärgeschichte vom 17. bis 19. Jahrhundert, "ist keine Arbeit über Oberst Christian v. Massenbach angefertigt worden. Er wurde im 'Handbuch zur deutschen Militärgeschichte' sporadisch, vor allem im Zusammenhang von 1806 erwähnt. Die einschlägigen Biographien (ADB, NDB, Knesebeck) und seine hauptsächlichen Werke sind in der Bibliothek MGFA vorhanden."
Das heißt also, daß das MGFA auch von der Publikation der Historischen Denkwürdigkeiten und dem biobibliographischen Essay von Hans-Werner Engels aus dem Jahre 1979 keine Kenntnis hat. Das kann man unter Kameraden auch Mut zur Lücke nennen. - Es hätte aber aus den Forschungen von Hans-Werner Engels hinlänglich bekannt werden können, daß eben dieser Massenbach während seiner Militärdienstzeit, erst in Württemberg, dann in Preußen, zahllose theoretische Schriften verfaßt hat. Kaum eine davon hat er nicht als Denkschrift, zunächst an Friedrich den Zweiten (der ihn 1783 zum Eintritt in den preußischen Dienst einlud), dann entweder an den Herzog von Braunschweig als Oberbefehlshaber der gegen Frankreich verbündeten Truppen oder den preußischen König als seinen Landesherrn bzw an den Generaladjutanten und den Generalquartiermeister als seinen jeweiligen Dienstherrn weitergeleitet. Worunter die wichtigsten diejenigen Denkschriften waren, die sich mit der Reform des Generalquartiermeisterstabes befaßten, den Massenbach zu der Führungsinstanz umbauen wollte, die dann später Generalstab genannt wurde und die nach 1806 Scharnhorst im Ringen mit dem König durchgesetzt hat. Nichts davon scheint aus dem Besitz des preußischen Heeresarchives erhalten geblieben zu sein, wenn nicht schon in früheren Jahrzehnten vieles von dem beseitigt worden ist, was ein Offizier, der nach 1806/1808 bei Hof in Ungnade gefallen und aus dem Militärdienst herausgedrängt worden war, an Unangenehmem und "Staatsgefährdendem" schriftlich hinterlassen hatte.
So scheint es aber nur. Es gab dennoch, vor dem Erscheinen des Buches von und über Massenbach im Verlag 2001, das mit Hilfe des Historikers Hans-Werner Engels entstehen konnte, eine Abhandlung, in der sowohl das Wirken Massenbachs besprochen als auch auf Originaltexte Bezug genommen wurde.
Jenes Buch ist erstmals 1952 herausgekommen, im Bernhard & Graefe Verlag, Frankfurt sowie im Verlag für Wissenschaft, Wirtschaft und Technik in Bad Harzburg. Der Autor des Buches "Scharnhorsts Vermächtnis" ist kein geringerer Kopf als Reinhard Höhn, der im vergangenen Jahr verstorbene Ausbilder so mancher Führungskraft der Wirtschaft, der von 1935 bis 1945 Direktor des Instituts für Staatsforschung in Berlin und Angehöriger des SD-Hauptamtes war und der im Dienste der SS zum SS-Standartenführer und während des Krieges zum Generalleutnant der Waffen-SS aufgestiegen war - also ein Intellektueller in der SS, zur Rechten Reinhard Heydrichs stets mit Rat und Tat bereit, und jemand, der wenn er vom Generalstab schreibt, wissen müßte was er da abhandelt.
In einem kurzen Vorwort zu seinem Buch schrieb Reinhard Höhn zu den Materialien für seine Arbeit, dabei auch nebenbei mitteilend, wie Verdrängtes und Unterdrücktes trotz aller Zensur- und Verschlußanstalten dem so neu- wie besitzgierigen und auch der inquisitorischen Macht nahestehenden Staatsforscher nicht verborgen bleiben muß, aber auch wie wertvoll eine intelligente Verarbeitung solchen Materials auch nach 200 Jahren noch sein kann:
Das vorliegende Buch ist eine Quellenarbeit. Es beruht auf Material, das zum Teil nicht mehr zugänglich, zum Teil vernichtet ist. Ist doch die gesamte archivalische Hinterlassenschaft des preußischen Heeres von den ersten Anfängen bis zum Jahre 1918 mit Ausnahme der Nachlässe durch Luftangriff im April 1945 zerstört worden. Ein Zufall erhielt dem Verfasser die Unterlagen.
Beim Abschnitt IV des Kapitels "Scharnhorsts Kampf um den Generalstab" reibt sich der Leser eines Werks, das als eine einzige laudatio auf den Revolutionär des preußischen Heeres mit Spannung und Belehrung zu lesen ist, verwundert die Augen. Die Überschrift dieses Abschnitts, wo es um die Kernaufgabe des Generalstabes geht, lautet "Der Generalstab als Ersatz für das mangelnde Genie des Feldherren". Darin wird zur Begründung der Notwendigkeit eines Generalstabes unter eben diesem Gesichtspunkt gerade aus den Denkschriften des Mannes zitiert, dem doch Scharnhorsts glühender Anhänger Höhn eigentlich keine so große publicity machen dürfte, nämlich aus den Denkschriften und Entwürfen Christian von Massenbachs zur Reform des General(quartiermeister)stabes, die jener lange vor der Katastrophe von Vierzehnheiligen immer wieder ins Feld geworfen hatte und mit denen nur selten gegen die Front der altabsolutistischen Kabinettskriegsgeneräle vor dem Untergang Preußens ein Durchkommen war.
Es lohnt sich, diese nicht allzu langen Abschnitte nachzulesen und dabei allmählich gewahr zu werden, was die preußisch-deutsche, die bismärckische Geschichtsschreibung seit zwei Jahrhunderten vergessen hat und vergessen haben wollte. Die Historischen Denkwürdigkeiten Massenbachs nicht zu kennen und nicht kennen zu wollen, das ist ein Meisterstück in der "Kunst der größtmöglichen Verdrängung" aus Deutschland. Nicht zu Deutschlands Nutzen!