Peter G. Spengler

Oeder Weg 23
60318 Frankfurt am Main

Frau

Mechthild Reith
Büro Gerhard Schröder
Willy-Brandt-Haus
Wilhelmstraße 161

10963 Berlin

3. September 1999

Liebe Mechthild Reith,

herzlichen Dank für die Entgegnung auf meinen Brief vom 10.08. und die Mühe, die (wenigstens) Du auf Dich genommen hast, diesen Brief durchzulesen und zu beantworten.

Ein Vorsitzender schickt einen Serienbrief an Hunderttausende und erwartet, daß seine Appelle für sich sprechen und wirken. Was wäre, wenn jedes Parteimitglied antworten würde, gar noch mit einem verhältnismäßig langen Brief wie ich? Das wäre zwar die vollendete Kommunikation, ein hundertausendfältiger Dialog, aber so war es denn nun doch nicht gemeint. Referentinnen und Referenten sind da nicht zu beneiden. Bei der abenteuerlichen Gratwanderung zwischen detailliertem Eingehen auf die Inhalte der Briefe und einem unverbindlichen »Wir haben verstanden« ist kaum noch Gleichgewicht zu halten.

»... vor allem in der Beschäftigung mit Leibniz bin ich natürlich längst nicht so weit.«

An dieser Bemerkung zeigt sich, daß es für die Aufnahme meines Briefes keinen Unterschied bedeutet hat, ob der Vorsitzende selbst oder Du meinen Brief gelesen bzw. beantwortet hätte. Der Vorsitzende ist selbst auch »natürlich längst nicht so weit«. Wollte man aber bei Leibniz für die Grundlagen moralisch verantwortlicher und republikanischer Arbeit für das Gemeinwohl etwas lernen, so kann eine gar nicht so anstrengende Lektüre von »Grundriß einer Denkschrift über die Einrichtung einer Sozietät zur Förderung der Künste und Wissenschaften in Deutschland« sowie » Societät und Wirtschaft « (beide vermutlich aus dem Jahre 1671) durchaus gewinnbringend sein. Der größte Politiker (oh ja, das war Leibniz - auch) des 17ten Jahrhunderts zeigt uns Deutschen dort 23 Jahre nach dem Ende des zivilisationsverheerenden dreißigjährigen Krieges, wie aus zureichenden Gründen Zuversicht entsteht und sich entfaltet:

»Die Hoffnung ist ein Glaube an etwas Zukünftiges, so wie der Glaube sozusagen eine Hoffnung hinsichtlich etwas Vergangenem ist. Denn glauben bedeutet soviel wie hoffen, daß das Vergangene, so wie man sagt, wahr sei. Der wahre Glaube und die wahre Hoffnung bestehen nun aber nicht nur im Reden, ja nicht einmal nur im Denken, sondern im praktischen Denken, d. h. Handeln , als wenn es wahr wäre.« ...

Soweit meine Anregung, wie man bei Leibniz weiter kommen könnte. Aufgefallen ist mir bei Deiner dankenswerten Antwort, worauf Du nicht in Stichworten eingegangen bist. Was selbstredend nicht den Schluß zuläßt, daß ich da mit Zustimmung rechnen könnte. Deine Stichwortentgegnungen scheinen vielmehr anzudeuten, daß sich im Büro Schröder nahezu alles darum dreht, zeitgemäß auf die Zeit einzugehen und sich ihr anzuverwandeln. Doch woher kommen da noch Maßstäbe, selbst noch die, mit denen an der Zeit Maß genommen werden kann, wie man rechtzeitig mit einer zeitgemäßen Feststellung an die Öffentlichkeit tritt?

Du hast völlig Recht, wenn Du den Grünen zuschreibst, daß sie die Bedeutung einer zeitgemäßen Wirtschaftspolitik erkannt hätten. Doch was haben sie damit erkannt? Haben sie etwa erkannt, wie der »Raubtierkapitalismus« unserer Tage funktioniert oder welche verheerenden Wirkungen die »Psychopathen an der Wall Street« (beides starke Ausdrücke von Helmut Schmidt; ich nenne das eben spekulativen Empirismus) Woche für Woche hervorrufen? Daß mit dieser Funktionsweise der globalen Verhältnisse und Transaktionen des fiktiven Kapitals jede gedachte oder zum Handeln bereite Wirtschaftspolitik welcher legitimen Instanz des Gemeinwesens auch immer untergraben und unterspült wird?

Der Bundeskanzler und Parteivorsitzende wird bald bemerken, daß er nur auf einer spekulativ-empiristischen Welle dahintreibt, wenn er für bare Münze nimmt, was ihm vielleicht ein Norbert Walter zugeraunt hat: »He Du, nächstes Jahr: 3% Wachstum!« Wenn Gerhard Schröder das dann gleich beim ersten Interview nach dem Urlaub ausposaunt, verhält er sich närrisch gutgläubig und redet wie der Blinde von der Farbe. Oder auch so, wie nahezu alle Finanz-und Wirtschaftsjournalisten, die sich von den Bankmanagern in die Recorder diktieren lassen, was jene von den Märkten (für sich) erwarten.

Kurzgefaßt habe ich gerade deswegen auf Leibniz Bezug genommen, weil seine revolutionären Einsichten in die physikalischen Grundlagen der Wirtschaft gerade nicht »zeitgemäß«, aber einer Zeit, in der die Wahngebilde der »nachindustriellen Gesellschaft« ohne Grenzen zu wachsen scheinen, gerade angemessen sind, wenn jemand bereit ist noch einiges zu lernen, bevor die papiernen Zeugnisse und Kontrakte der spekulativen und derivativen Wahngebilde in sich zusammenbrechen und sowohl den Kanzler der Deutschland GmbH als auch den Vorsitzenden der einstmaligen Partei der denkenden und der leidenden Menschheit zunächst einmal unter sich begraben. Dann wird eine Referentin des Vorsitzenden viel Arbeit bekommen - und nur wenige freundliche Briefe.

Claus Noé scheint wenigstens (von der Titanic aus) die Spitze des Eisbergs wahrgenommen zu haben, wenn er der ZEIT sagt:

ZEIT: Eines der wichtigsten Themen Lafontaines war die Neuregulierung der internationalen Finanzmärkte. Viel hat er nicht bewegt. Lag das nur an der Kürze der Amtszeit?

NOÉ: Das spielte natürlich eine Rolle. Aber vor allem muss man bedenken, dass jede öffentliche Argumentation gegen eine herrschende Grundströmung massive ökonomische Interessen berührt. Lafontaines Versuch, den IWF aus der amerikanischen Vorherrschaft zu lösen, lief den Interessen zahlreicher Finanzinstitutionen, Banken, insbesondere Fonds zuwider. Sie leben von der Möglichkeit, in kurzer Zeit möglichst große Gewinne einzufahren, und sei es um den Preis des Ruins ganzer Volkswirtschaften, siehe Ostasienkrise. Wenn man dagegen angeht - wie Lafontaine gemeinsam mit dem französischen Finanzminister Strauss-Kahn, übrigens unterstützt von den Japanern -, dann stößt man auf massiven Widerstand. Wenn dann obendrein die Regierung Blair verhindert, dass Europa in den internationalen Institutionen mehr Gehör bekommt, dann ist es schwer, sich durchzusetzen.

ZEIT: Ein bisschen klingt das, als hätte Lafontaine vor dem internationalen Finanzkapital und dessen Einfluss kapituliert?

NOÉ: Das schmeckt zu sehr nach Verschwörungstheorie.

ZEIT: Wovor kapitulierte er dann?

NOÉ: Es ging nicht um Kapitulation. Oskar Lafontaine musste im ersten Halbjahr seiner Regierungstätigkeit erkennen, dass die Arbeitsteilung zwischen ihm und dem Bundeskanzler bei der verabredeten Modernisierungspolitik nicht funktionieren würde. Das führte zum Bruch.

Da dieser Brief ohnehin wieder länger geraten ist, erlaube ich mir noch, einige Bemerkungen anzuführen, die ich zum von Noé angesprochenen Thema nach dem Ende des Krieges gegen Jugoslawien bislang nur in kleinem, vertrauten Kreis zu bedenken gegeben habe:

»Seit Clintons Angebot eines besonderen Verhältnisses zwischen Deutschland und den USA im Jahre 1994 (aus dem lediglich ein Freundschaftsverhältnis zwischen Bill und Helmut wurde - bis zur Verleihung der amerikanischen Freiheitsmedaille an Helmut Kohl am 20. April) hat sich erstmals eine moralische, politische und militärische Kalibrierung der amerikanischen und deutschen Bestrebungen ergeben, die sich zwischen den Verantwortlichen der Politik in beiden Nationen selbständig entwickelt hat und das Sonderverhältnis zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich überragt.

Ich weiß, daß weder in der deutschen diplomatischen Körperschaft eigenen Stils noch in der deutschen veröffentlichten Meinung diesen feinen Unterschied irgendjemand für wichtig hält. Ein Rhodes-Stipendiat wie Clinton könnte diesen Unterschied erklären. Es kommt nicht nur darauf an, daß die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der deutschen Republik solche sind, die sich auf die amerikanische Verfassung und das Grundgesetz gründen, sondern auch darauf, daß diese Beziehungen direkt und unmittelbar sind und sich britische Politik auf keinerlei Weise in die Pflege und Entwicklung dieser Beziehungen einschalten kann. Das setzt natürlich auch voraus, daß amerikanische Politik in der Lage ist, Deutschland als Republik wahrzunehmen und ihr Urteil über Deutschland in der Welt ungetrübt durch anglo-amerikanisch-imperiale Zerrbilder direkt und unverstellt zu bilden. In den Zeiten, in denen der amerikanische Präsident konzentrations- und handlungsfähig ist, gelingt das in einer Weise, wie wir sie seit Kennedys und Brandts Zeiten nicht mehr erlebt haben. Und seit seiner Rede vor dem amerikanischen Zeitungsverlegerverband befindet sich Clinton wieder >on the right track<.«

Das armselige Papier, das Blair und Schröder herausgebracht haben (auf dessen Grundlage nun über eine Neuauflage des SPD-Programms spintisiert werden soll), hat nach meiner Beobachtung nicht so sehr das Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland irritiert, wie Helmut Schmidt sicherlich auch zu Recht beklagt hat und was Schröder vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik beschwichtigen wollte; es hat vor allem von jener Feinabstimmung des deutsch-amerikanischen Verhältnisses zwischen Personen durch Themenwechsel und einen erneuten britisch-deutschen Drall von möglichen weiteren Vorhaben und Initiativen abgelenkt - genau das was Blair, seine »spin doctors« und Whitehall brauchten, damit bei den Staatspersonen in Bonn sich die Wahrnehmung dieses neuen Einvernehmens gar nicht erst deutlich machen und vertiefen könnte.

Insofern ist sowohl das sogenannte »Zukunftsprogramm 2000« als auch die Auseinandersetzung mit der Partei um ein neues Programm eine »Diversion« gargantuesken Ausmaßes, die Euer Büro auf Monate hinaus vollauf beschäftigen wird, während die tatsächlich schwierigen Aufgaben der deutschen Politik gar nicht im Innern, sondern auf Weltebene liegen, wo man allerdings sehr viel Gespür und Fingerspitzengefühl benötigt, um verläßliche Bündnispartner zu erkennen, zu gewinnen und zu behalten.

Eines weiß ich mit Sicherheit: Tony Blair kann, wenn man sich nur ein wenig den Blick für britische Machtverhältnisse und -bestrebungen öffnet, ein solcher Bündnispartner gar nicht sein. Doch diese Erfahrung müssen die fürs Zeitgemäße Verantwortlichen anscheinend erst noch machen. Wenn sie dann so weit sein werden, wird sie das Ergebnis dieser Erfahrung sehr schmerzhaft treffen; die sozialdemokratische Partei werden sie unterdessen mit der linken Hand pulverisiert haben.

Mit freundlichen Grüßen

Peter G. Spengler