Von der Analytik des Wirtschaftens zur Theorie der Volkswirtschaft

Methodologische Untersuchungen mit besonderem Bezug auf die Theorie Schumpeters (1936)
Ein Abschnitt (Drittes Kapitel) aus der Dissertation von Alfred Sohn-Rethel über Schumpeter, den weder die Zunft der theoretischen Ökonomie noch die hysterische Selbstvergewisserung des alten und neuen Liberalismus in der Praxis zur Kenntnis zu nehmen vermag:

»Die Theorie Schumpeters ist in fast allen ihren Hauptstücken ein besonders geeignetes Beispiel, um das Wesen und die schwerwiegenden Mängel der »Übertragungsmethode« daran zu demonstrieren.

Das Rätsel, wie es möglich sein könne, daß in der Naturerkenntnis unsre Hypothesen, obwohl wir sie nicht aus den Gegenständen, sondern nur aus unserem eigenen Denken schöpfen, dennoch auf die Phänomene zutreffen können, hat Kant durch die Einsicht zur Auflösung gebracht, daß unsere Hypothesen in Ansehung der Natur selber schon auf den Bedingungen beruhen, nach denen auch »Natur selbst allererst möglich« ist. Dies ist also die oberste und tragende Bedingung, unter der allein eine hypothetische Erklärungsweise von Gegenständen der Erfahrung eine Erkenntnis zu geben vermag. Und wenn wir unter diesem Gesichtspunkt die naturwissenschaftliche Methode im Felde der Ökonomie beurteilen, so sehen wir gleich, warum sie hier vollständig versagen und sich selber aufheben muß. Denn in der Ökonomie sind unsere Gegenstände keine Naturobjekte, sondern denkende, selbstbewußte, rationale Subjekte, welche alle selber schon Naturerfahrung haben und sich in ihrem Wirtschaften durchweg auf Naturerfahrung stützen.

Die Rolle naturwissenschaftlichen oder, besser, naturerfahrenden Verhaltens liegt darum in der Ökonomie auf seiten des Gegenstandes und nicht auf seiten des Subjektes der ökonomischen Erkenntnis. Denn der Gegenstand der theoretischen Ökonomie beginnt damit, daß Subjekte von ihrer Naturerfahrung einen wirtschaftlich rationalen Gebrauch machen. Wenn man das Wirtschaften erkenntnistheoretisch ansehen mag, so ist Naturerfahrung überall seine Voraussetzung, und indem das wirtschaftende Subjekt sie seinen Zwecken dienstbar macht, kommt letztlich jeder praktische Erfüllungsakt einer beabsichtigten Bedürfnisbefriedigung, einem Experiment auf die in der Absicht enthaltene Erfahrungshypothese gleich. Wir haben die theoretische Naturwissenschaft selbst so anzusehen, daß sie aus dem Verhalten des wirtschaftenden Subjekts hervorgegangen ist, indem dieses seine Naturerfahrung aus den praktischen persönlichen Zweckbezügen herausgelöst und als rein theoretisches Objekt konstituiert hat. Und so wie sich durch diesen gedanklichen Vorgang das Wirtschaftssubjekt in den Theoretiker der Naturwissenschaft verwandelt hat, so verwandelt sich der Theoretiker, der die naturwissenschaftliche Erkenntnisweise auf die Ökonomie anwendet, gedanklich in ein Wirtschaftssubjekt zurück und konstituiert sich selbst pro tanto als einen Gegenstand der theoretischen Ökonomie. Dies haben wir bei der Kritik der »reinökonomischen« Variationsrechnung deutlich beobachten können.

Die erkenntnistheoretische Autonomie des Subjekts der Naturerfahrung, auf welche sich allein die naturwissenschaftliche Methode gründen kann, hat im Felde der theoretischen Ökonomie also der Gegenstand derselben: Die Autonomie liegt in der theoretischen Ökonomie beim Gegenstand, weil sie der Natur gegenüber bei der Erkenntnis liegt. Denn das Wirtschaften der Menschen beruht selbst schon auf dieser Autonomie, und indem die Menschen sie in ihrem wirtschaftlichen Verhalten selber betätigen, bringen sie den Gegenstand der theoretischen Ökonomie hervor. Darum: Weil sich in der Naturwissenschaft der Gegenstand nach unserer Erkenntnis richtet, muß sich in der theroretischen Ökonomie die Erkenntnis nach ihrem Gegenstand richten. Die theoretische Ökonomie ist gemäß den Grundlagen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis darauf hingewiesen, ihre Erkenntnis so zu verankern, daß sie ihren Gegenstand, also das jeweilige Ganze einer Volks- oder Verkehrswirtschaft, nach den Bedingungen seiner eigenen Möglichkeit und so begreift, wie er an sich selber beschaffen ist, nämlich wie die Menschen ihn bloß durch die Betätigung ihrer rationalen Autonomie selber hervorgebracht haben. Das »An sich« des Gegenstandes der theoretischen Ökonomie ist im Prinzip der Standpunkt des Subjekts der Naturerfahrung oder, genauer, ist dieses Subjekt in seiner Rolle als Wirtschaftssubjekt, in der es seine Naturerfahrung und deren Gegenstände auf seine persönlichen Zwecke bezieht und sie als »Güter« seinem Dasein dienstbar macht. Während in der Naturerkenntnis das »An sich« des Gegenstandes, d. h. der Natur, transzendent ist, »die transzendentale Materie aller Gegenstände als Dinge an sich«, ist in der Ökonomie das »An sich« des Gegenstandes, nämlich der Volkswirtschaft, gerade die Immanenz, nämlich die Erfahrung, welche die Subjekte von den Dingen als bloße »Erscheinung« besitzen, und das zweckrationale Verhalten, zu welchem diese Erfahrung sie ihren persönlichen Wertungen gemäß bestimmt. In der theoretischen Ökonomie ist uns also das »An sich« des Gegenstandes gegeben, so wahr es eine naturwissenschaftliche Erkenntnis gibt; und nur von ihm darf alle unsre ökonomische Erkenntnis ausgehen, um Erkenntnis zu sein.

Wenn man sich also in der theoretischen Ökonomie mit den Grundlagen und Prinzipien der Erkenntnis überhaupt methodologisch in Übereinstimmung setzen will, so ist man zu einer Methode gezwungen, welche sich gerade umgekehrt wie diejenige der Naturwissenschaft verhält. Dieser ist die Beschaffenheit ihrer Gegenstände an sich selber verschlossen; sie muß ihrer Erkenntnis derselben (als Erscheinung) alle Aussage aus eigenem Denken hypothetisch vorwegnehmen, weil sie jenen gegenüber allein die Autonomie besitzt; die einzige Garantie ihres Erkenntniswertes liegt post festum ihrer Theorie im Experiment. Die theoretische Ökonomie aber steht erkenntnistheoretisch genau auf den Schultern dieser methodologischen Position der Naturerkenntnis: Ihr ist die Beschaffenheit und Grundlage ihres Gegenstandes an sich selber prinzipiell restlos einsichtig - denn diese ist nur die rationale Erfahrung der Subjekte selbst; sie darf ihrem Gegenstand prinzipiell in ihrer Theorie nichts vorwegnehmen - denn die erkenntnistheoretische Autonomie hat ihr gegenüber ihr Gegenstand; alle Garantie für ihren Erkenntniswert liegt für sie ausschließlich darin, daß sie sich ante festum ihrer Theorie der Identität ihrer Voraussetzungen mit den Bedingungen der Möglichkeit ihres Gegenstandes versichert - und hat sie diese Verankerung versäumt, so wird sie hernach aus ihren Ergebnissen niemals wieder eine gewinnen, sondern ihre Theorie steht ohne jeden Erkenntniswert im Leeren.

Glaubt man, den Bedingungen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis damit recht zu tun, daß man die Methode derselben kritiklos auf die Ökonomie überträgt und sie in deren Feld äußerlich nachahmt, indem man hypothetisch »Erfahrungsdaten« erklären will, so setzt man sich in konträren Widerspruch zu den Bedingungen der Möglichkeit solcher Erkenntnisweise, und hebt sie daher in sich selber auf. Denn was dort zur genauen, »exakten« empirischen Erkenntnis führt, das schlägt hier, nur seinem eigenen Gesetz gehorchend, in gegenstandsblinde, prinzipiell unfruchtbare selbstanalytische Spekulation um, die von der Realität ihres Gegenstandes, also der Volkswirtschaft, so vollständig abgeschnitten ist, daß sie nicht einmal den Gegensatz gewahr wird,in dem sie sich zu ihm befindet.

Die agierenden Subjekte der Volkswirtschaft, wenn sie über die wirtschaftlichen Bedingungen ihrer Existenz reflektieren, gehören selber zu dem Gegenstand (!), den ihre Reflexion meint, und dies so lange, als ihre Reflexion über die Volkswirtschaft den Erkenntnisstandpunkt mit dem Wirtschaften selber gemein hat. (*) Und dies ist der Fall bei der Übertragungsmethode, denn ihr naturwissenschaftlicher Erkenntnisstandpunkt ist ebenderselbe, wie er dem Wirtschaften und den Reflexionen wirtschaftender Menschen zugrunde liegt. Der Standpunkt der Übertragungsmethode ist also von Grund aus gar nicht derjenige der theoretischen Ökonomie, sondern der der Wirtschaftssubjekte, welche in ihrem Verkehrszusammenhang erst den Gegenstand jener ausmachen. Darum eben kommt die Theorie dieser Methode immer wieder auf einen Aspekt hinaus, mit welchem ein Einzelsubjekt nun erst in den Tauschverkehr mit anderen einzutreten hätte; und darum auch vermag als Grundlage zu allen Interpretationshypothesen nichts anderes als der Kanon der wirtschaftlichen Rationalität gefunden zu werden, auf den die ökonomische Ordnung des Verkehrszusammenhanges derselben gerade nicht aufgeht. Um also mit der theoretischen Ökonomie zu beginnen, hat man den ganzen Standpunkt der Übertragungsmethode dahin zurückzustecken, wo er herstammt, nämlich in die Köpfe der Wirtschaftssubjekte, welche, indem sie danach handeln, den Gegenstand der theoretischen Ökonomie hervorbringen.

(*) Wieviel jemand von den ihn umgebenden Verhältnissen und von den volkswirtschaftlichen Zusammenhängen, die sein Dasein bedingen, in seinen Zwecksetzungen berücksichtig, ist für den Charakter seines Erkenntnisstandpunktes grundsätzlich gleichgültig. Es kann zuletzt auch das Ganze der Volkswirtschaft sein, worüber er reflektiert, er mag auch über die Reflexion seine Zwecke und das Handeln vergessen und von seiner »praktischen Wertung« zur bloßen »theoretischen Wertbeziehung« übergehen, so hat sich sein Erkenntnisstanpunkt dennoch nicht geändert. Derselbe ist lediglich aus der eines interessierten zu dem eines desinteressierten Interessenten geworden.

aus:

Von der Analytik des Wirtschaftens zur Theorie der Volkswirtschaft
Methodologische Untersuchungen mit besonderem Bezug auf die Theorie Schumpeters (1936)

in Alfred Sohn-Rethel, Warenform und Denkform (Anhang),
Frankfurt 1978, edition suhrkamp 904