Aus Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Januar 2000

Pioniergeist für die Marktwirtschaft

Zum 50. Todestag von Joseph Schumpeter

Von Karen Horn

Der Schumpetersche Unternehmer ist legendär. Der unternehmerische Pionier, wie ihn der österreichische Wirtschaftswissenschaftler Joseph Schumpeter einst erdacht hat, steht heute als Chiffre für die Quelle der Dynamik marktwirtschaftlicher Ordnungen. Der Schumpetersche Unternehmer ist ein Symbol für Innovation und Revolution. Im Prozess der »schöpferischen Zerstörung« des Bestehenden setzt er »neue Kombinationen« durch - neue Waren und Dienstleistungen, Herstellungs-, Transport- und Kommunikationsmethoden, Einkaufs- und Absatzwege, Organisationsformen und Marktstrukturen. Sein Erfolg ruft Nachahmer auf den Plan, die dem Neuerer seine Monopolrente nach einer gewissen, die Rendite der Investitionen sichernden »Schonfrist« allmählich wieder abjagen - zum Wohlgefallen der Verbraucher.

Der Schumpetersche Unternehmer bietet eine Erklärung, wie Fortschritt und Wandel, wie Konjunktur und Wachstum entstehen und warum ein Leben im Gleichgewichtszustand neoklassischer Modelltheorie höchst unerquicklich wäre. Er dient aber auch als gern genutztes, fast schon abgenutztes individualethisches Vorbild für das freie Unternehmertum. Immer dann, wenn es reifen Volkswirtschaften an Schwung gebricht, wenn Klagen über fehlende unternehmerische Risikobereitschaft laut werden, wenn sich der Staat bemüßigt fühlt, mit kollektiv finanzierten Ausgaben in private Breschen zu springen, dann wird nach dem gerufen, den man freilich mit bloßen Appellen nicht herbeizwingen kann: nach dem Schumpeterschen Pionier.

Ausgerechnet Schumpeter, der erklärende Held des dynamischen Markts, war jedoch Sozialist. Der geniale, aber eitle, launische und seelisch zerbrechliche Wissenschaftler (geboren am 8. Februar 1883 im mährischen Triesch, gestorben am 8. Januar 1950 im amerikanischen Taconic), der als Finanzminister Österreichs glücklos war und eine Bankenpleite erleben musste, war ein glühender Anhänger des größten intellektuellen Verführers des 20. Jahrhunderts: Karl Marx. Schumpeters Pionierunternehmer, der dem Markt Impulse gibt und das ganze System in Schwingung versetzt, war kaum als individualethische und schon erst recht nicht als kapitalistische Vorbildfigur gedacht. Schon das Wort Kapitalismus war durchaus verunglimpfend gemeint. Zwar begünstige das kapitalistische System - durch die Bereitstellung von Krediten - den aus der industriellen Revolution geborenen Fabrikbesitzertypus, meinte Schumpeter. Als innovative Unternehmer kommen seiner Ansicht nach jedoch auch kollektivistische Veranstaltungen und ihre Vertreter in Frage, selbst die Organe einer sozialistischen Gesellschaft, die Herren eines Fronhofs oder die Häuptlinge eines primitiven Stammes.

Schumpeter war wie die anderen Vertreter des so genannten wissenschaftlichen Sozialismus davon überzeugt, dass »kraft ihrer reinen Logik die kapitalistische Entwicklung dahin tendiert, die kapitalistische Ordnung der Dinge zu vernichten und die sozialistische herbeizuführen«, wie er in seinem 1942 erschienenen, berühmten Werk »Kapitalismus. Sozialismus und Demokratie" schreibt. »Kann der Sozialismus furiktionieren? Selbstverständlich kann er es. Kein Zweifel ist darüber möglich...« Die Unausweichlichkeit des kapitalistischen Zusammenbruchs war für Schumpeter ebenso klar wie für Marx. Im Unterschied zu diesem sah er die Ursache jedoch nicht im abnehmenden, sondern im übermäßigen Erfolg, der vor lauter Wohlstandsträgheit den Erwerbstrieb erschlaffen und im Intellektuellenlager Feindschaft wachsen lässt.

Dass der Wohlstand träge macht, wie es Schumpeter voraussah, kann wohl auch von heutiger Warte aus bestätigt werden, ebenso wie die klischeehafte Wirtschaftsfeindlichkeit der dünkelhaften Intelligenz. Ebenso zutreffend ist freilich auch heute noch die Diagnose, dass dem Wettbewerb in Abwesenheit eines geeigneten Ordnungsrahmens jene Konzentrationstendenzen innewohnen, von denen nicht nur Marx erwartete, dass sie die Marktwirtschaft ad absurdum führen würden. Doch seit Marx und Schumpeter hat sowohl die wissenschaftliche Erkenntnis als auch deren Anwendung Fortschritte gemacht. Inzwischen ist klar, was Schumpeter ahnte: welche überragende Rolle dem Ordnungsrahmen, den gesellschaftlichen Institutionen und Regeln für die gedeihliche, von Verkrustung freie Entfaltung der Marktwirtschaft zukommt. Es ist klar, dass der Sozialismus eben doch nicht funktionieren kann. Es ist klar, dass Markt und Demokratie zusammengehören. Und es ist die individuelle Freiheit in den Vordergrund gerückt, die in einem solchen System am besten aufgehoben ist.

Dennoch werden auch heute vor dem Hintergrund der Globalisierung, angesichts von internationalen Großfusionen und modischen Schlagworten wie Shareholder Value immer wieder Befürchtungen laut, die marktwirtschaftliche Dynamik könnte den Keim ihrer eigenen Zerstörung in sich tragen. Außerdem fürchtet man die wachsende Anonymität, die Individualisierung, den Verlust von Solidarität. So schrieb schon Schumpeter: »Indem der kapitalistische Prozeß ein bloßes Aktienpaket den Mauern und den Maschinen einer Fabrik substituiert, entfernt er das Leben aus der Idee des Eigentums. Er vermindert den Zugriff... auch in dem Sinn, daß der Inhaber des Titels den Willen verliert, ökonomisch, physisch, politisch für >seine< Fabrik und seine Kontrolle über sie zu kämpfen und wenn nötig auf ihrer Schwelle zu sterben. Und diese Verflüchtigung dessen, was wir die materielle Substanz des Eigentums... nennen können, beeinflußt nicht nur die Haltung der Aktienbesitzer, sondern auch die der Arbeiter und die der Öffentlichkeit im allgemeinen. Ein Eigentum, das von Person und Materie gelöst ist, macht keinen Eindruck und erzeugt keine moralische Treuepflicht...«

Was hier zum Vorschein kommt, ist indes nichts anderes als die Angst konservativer marktwirtschaftlicher Akteure vor ihrer eigenen Courage. Allein in solchem Zagen lauert die Gefahr. Hier, nur hier ist - ausnahmsweise nun bewußt mit individualethischem Impetus - Pioniergeist gefragt: in der Wertschätzung des effizienten marktwirtschaftlichen Systems, das eine Verunglimüfung als »Kapitalismus« nicht verdient.