Novissima Sinica (lateinisch) = Das Neueste von China (deutsch) - könnte die Überschrift des Berichtes eines modernen Zeitungs-Journalisten sein. Die Anfügung von Original-Berichten und Dokumentationen entspricht gleichfalls der anzustrebenden Gewissenhaftigkeit eines modernen Journalisten, der durch die Mitteilung seiner Quellen dem Leser eine eigene Urteilsbildung ermöglichen will oder jedenfalls sollte. Die Sorgfalt des Verfassers geht sogar so weit, daß er in der zweiten Auflage, die bereits nach zwei Jahren erforderlich wurde, das inzwischen erschienene "Porträt des regierenden Kaisers von China (K'ang-hsi)" des Franzosen Joachim Bouvet, das er aus dem Französischen ins Lateinische übersetzte, als zusätzliches Material seinen Lesern nicht vorenthalten wollte.
Tatsächlich wurde der Bericht jedoch vor nahezu 300 Jahren (1697; 2. Auflage 1699) veröffentlicht von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716), einem der letzten großen Universalgenies des Westens, der noch einmal nahezu das gesamte Wissen seiner Zeit in sich vereinigte mit dem Ziel, nicht nur die wichtigsten Wissensgebiete durch eigene Gedanken und eigenes Forschen zu bereichern, sondern vor allem zur Besserung des Menschengeschlechtes (in vernunftmäßiger, aber auch moralischer Hinsicht) in eigener rastloser und unermüdlicher Tätigkeit beizutragen.
Leibniz war Philosoph, Logiker, Mathematiker, Historiker, Jurist, Bibliothekar, Sprachforscher. Er begründete z. B. als Mathematiker die Infinitesimalrechnung und die systematische Differentialgeometrie, förderte die Kombinatorik und ist mit seiner Dyadik (Zwei-Zahlen-Lehre) der Vorläufer und Wegbereiter der heutigen Kybernetik und Computerlehre, die er im übrigen bereits auf das chinesische Buch der Wandlungen (I-Ging) angewandt wissen wollte. Leibniz war aber auch Praktiker, Techniker, Erfinder: er betreute den Bergbau in Clausthal, erfand eine Rechenmaschine (die noch heute in Hannover aufbewahrt wird) und konstruierte eine Windturbine, die zur Zeit von Wissenschaftlern mit Hilfe der Volkswagen-Stiftung nachgebaut wird.
Als politisch denkender und sich verantwortlich fühlender Mensch wollte Leibniz vor allem auf die großen Entschlüsse der Weltpolitik Einfluß nehmen. Er wollte z.B. in seiner "Ägyptischen Denkschrift" (1672) Ludwig XIV., den Herrscher von Frankreich, veranlassen, seine kriegerische Expansionen nicht nach Deutschland, sondern nach Ägypten, zu richten. In mehreren Denkschriften und persönlichen Begegnungen machte er dem russischen Zaren Peter dem Großen Vorschläge zur Förderung der kulturellen Entwicklung Rußlands und Bewältigung der Aufgabe, Mittler zwischen China und dem Westen zu sein.
Die Novissima Sinica war von ihm dem Ziel gewidmet, einen echten großen kulturellen Austausch zwischen dem Westen und China zu begründen, wobei der Westen nicht nur Lehrender und Gebender, sondern auch Lernender und Empfangender sein sollte. Er hatte sogar die Vision einer Zusammenarbeit der Wissenschaftler aller großen Weltkulturen in einer gemeinsamen Welt-Akademie der Wissenschaften.
Gewiß war Leibniz bewußter evangelischer Christ. Er bezog aber seine Informationen über China völlig unvoreingenommen aus Büchern, Gesprächen und seinem Briefwechsel mit den katholischen Jesuiten, die damals wegen ihrer Verdienste um Kalender und Astronomie, aber auch um das Zustandekommen des ersten chinesisch-russischen Vertrages von Nertschinsk vom 7. 9. 1689 beim Kaiser K'ang-hsi in hohem Ansehen standen und Leiter oberster chinesischer Behörden und Mandarine 1. Grades geworden waren. Dabei war Leibniz frei von jener Überheblichkeit, die den Westen so oft geprägt hatte. Berühmt ist sein für die damalige Zeit mutiger Ausspruch - den wir bereits in unserem Vorwort zu Nr. 1 unserer Schriftenreihe: Joseph Needham, Chinas Bedeutung für die Zukunft der Westlichen Welt 1977 zitierten -, wir sollten nicht nur Missionare nach China, sondern China sollte auch Missionare zur richtigen Anwendung und Praxis des Verhaltens der Menschen untereinander in den Westen schicken. Er stammt aus der Novissima Sinica und kann S. 19 nachgelesen werden.
Leibniz standen damals nur unzulängliche Informationen zur Verfügung. Er verstand es aber, diese Unzulänglichkeiten durch seine glänzende Kombinationsgabe und Intuition mehr als auszugleichen. Sein damaliger Bericht hat auch heute nichts an Aktualität verloren. Leibniz hat im Gegenteil in der Novissima Sinica wie auch in seinen Briefen - allein über 200 Briefe über China sind bis heute nicht veröffentlicht! - so viele Probleme behandelt und Aufgaben gestellt, daß ihre Bewältigung von den sich mit China befassenden Wissenschaftlern noch lange Zeit in Anspruch nehmen wird.
Um so bedauerlicher ist es, daß der lateinische Text der Novissima Sinica bis heute nicht wissenschaftlich ediert wurde, obwohl seine Handschrift im Leibniz-Archiv in Hannover noch vollständig erhalten ist. Es gibt zwar eine französische Übersetzung (von Bornet 1956) und eine englische (von Lach 1957), aber bis heute keine vollständige deutsche Übersetzung. Die um den Kulturaustausch mit China bemühte Deutsche China-Gesellschaft kann ihre Aufgabe nicht richtig durchführen, wenn sie sich nicht um die "Geschichte" dieses Austausches bemüht. Wir sind im Westen zu sehr daran gewöhnt, die Geschichte als etwas Vergangenes und Abgeschlossenes zu behandeln. Bei den meisten Chinesen ist Vergangenes noch heute lebendig. Wir glauben, von China lernen zu können, die geschichtlichen Vorgänge auch bei uns immer wieder in das moderne Bewußtsein zu heben, um sie der Bewältigung der Zukunft nutzbar zu machen. Wir nehmen an, damit ein Vermächtnis von Leibniz zu erfüllen, wie wir auch glauben, seme Bemühungen fortsetzen zu sollen, wenn wir unserer Ausgabe und Übersetzung der Novissima Sinica die heute zugänglichen wichtigsten Informationen, z. B. über den Vertrag von Nertschinsk oder die Nestorianische Stele von Xi'an, mit Übersetzungen ins Deutsche, beifügen.
Denn nur ausreichende Kenntnisse der schon geleisteten geistigen Vorarbeiten, wie sie etwa Leibniz (oder Needham) mitteilen, können die Möglichkeiten aufschließen, die fruchtbar in der Begegnung der beiden großen Kulturnationen, Chinas und des Abendlandes, beschlossen sind, in der Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit und Gegenwart, die darauf besinnen machen könnte, was der Westen von China zu lernen hätte, wenn er aktiv an der friedlichen Gestaltung einer künftigen pluralistischen Weltkultur mitwirken will, um die in Europa wohl als erster Leibniz sich bemüht hat. Umgekehrtes gilt selbstverständlich ebenso: auch China müßte sich sehr viel intensiver auf geistige (nicht nur technologische) Weise mit dem Abendland befassen, als das bisher offenbar der Fall zu sein scheint.
Der Unzulänglichkeit ihrer Bemühungen sind sich die Verfasser bewußt. Der für die wissenschaftliche Edierung und Übersetzung der Novissima Sinica verantwortliche Verfasser H. G. Nesselrath (Jahrgang 1957) ist Student der Altphilologie an der Universität zu Köln, der Unterzeichnende (Jahrgang 1902) ist hauptberuflich als Wirtschaftsanwalt tätig. Beide haben ihre gemeinsame Arbeit als fruchtbare Team-Arbeit über die Generationen hinweg empfunden.
Die editorische Beschäftigung mit Leibniz verlangt ein enzyklopädisches Wissen auf allen von Leibniz behandelten Fachgebieten sowohl nach seinem Kenntnisstand wie dem entsprechenden der heutigen Zeit, eine Voraussetzung, der wohl kein Herausgeber mehr zu entsprechen vermag. Andererseits hätten Forschungen nach den in Fachpublikationen möglicherweise enthaltenen Antworten auf offene Detailfragen mehr Zeit beansprucht, als wir aufbringen konnten, vor allem, da uns auch die bisherigen Ergebnisse unserer Arbeit so interessant erscheinen, daß wir sie einem größeren Publikum nicht länger vorenthalten möchten. Dafür wie auch auf den bewußten Verzicht der Übertragung chinesischer Namen in die moderne Pinyin-Umschrift bitten wir um Verständnis.
Bei allem Bewußtsein der noch vorhandenen Mängel in unserer Arbeit möchten wir aber einerseits das chinesische Recht jedes gebildeten Laien zur Teilnahme und Anregung an der öffentlichen Diskussion geistiger Fragen für uns in Anspruch nehmen, andererseits jedoch die Wissenschaftler des Westens nachdrücklich auffordern, die vorliegende Arbeit zu verbessern und zu ergänzen. An vielen Stellen haben wir unser Bedauern zum Ausdruck gebracht, daß wichtige wissenschaftliche Arbeiten insbesondere für die deutsche Öffentlichkeit noch nicht geleistet worden sind; sie sollten in naher Zukunft geleistet werden.
Wir vermissen aber auch grundlegende Arbeiten und Einrichtungen auf beiden Seiten zur Förderung des Verständnisses zwischen unseren beiden Völkern. So wiederholen wir auch an dieser Stelle den Vorschlag, ein Kultur-Institut der VR China bei uns und ein Kultur-Institut der Bundesrepublik Deutschland in Peking einzurichten. Ein Max-Planck-Institut sollte sich bei uns mit den Grundfragen der chinesischen Schrift, Sprache, Logik, befassen, mit Fragen des Umwelt- und Mitmenschen-Verständnisses und sodann auch mit den angewandten Disziplinen wie einer vergleichenden Literaturwissenschaft, einer vergleichenden Medizin, Wissenschaftslehre, einer vergleichenden kommunistischen Ideologie, der Aufnahme der Gedanken von Engels, Marx und Lenin in China, um nur einige Beispiele der Anwendung einer Grundlagen-Forschung zu nennen. Die entsprechenden Bemühungen der chinesischen Akademie für Gesellschaftswissenschaften entziehen sich noch weitgehend unserer Kenntnis, vielleicht fehlt es aber auch hier noch an einer Erforschung der wissenschaftlichen Grundlagen.
An anderen Vorhaben erwähnen wir eine Dokumentation und Registrierung (mit Computer-Anwendung) der wichtigsten einmaligen und periodischen Veröffentlichungen auf beiden Seiten, für die Ansätze in China - aber nicht bei uns - vorhanden zu sein scheinen.
Wir widmen diese Veröffentlichung dem Vorsitzenden der KP Chinas und Ministerpräsidenten Hua Guofeng, dem Manne, der nach der revolutionären Befreiung und ideologischen Ausrichtung Chinas durch Mao Zedong zusammen mit Deng Xiaoping und anderen in Erfüllung des Vermächtnisses von Zhou Enlai den Weg seines Landes zur Selbstbesinnung auf seine große Vergangenheit, Modernisierung der Gegenwart und Gestaltung seiner glücklichen großen Zukunft geöffnet hat.
Köln, 21. Oktober 1979
Während im 15. und 16. Jahrhundert - im Zeitalter der Renaissance - das geistige Europa unter Ausweitung seiner geographischen Kenntnisse (durch die Entdeckungen) den Weg zu den eigenen griechischen und römischen Quellen suchte und sich bemühte, den christlichen Glauben neu zu begründen, war es das Bestreben des 17. Jahrhunderts - des beginnenden Zeitalters der Aufklärung -, unter Lösung von den engen Bindungen der Scholastik das geistige und kulturelle Leben auf die Prinzipien der Vernunft zu gründen und die Kenntnis der außerhalb Europas liegenden Länder und Erdteile auch wissenschaftlich zu verarbeiten.
Das Kennenlernen einer der europäischen zum mindesten gleichwertigen Kultur, der chinesischen, mit ihrer im Gegensatz zu Europa ungebrochenen Geschichte begann, das europäische Selbstbewußtsein, das sich als Mittelpunkt der Welt sah, zu erschüttern. Für die kulturelle Entwicklung war es ein Glück, daß die Kaufleute, Militärmächte, Missionare nicht etwa wie in Indien frei schalten und walten konnten (mit dem Ergebnis, daß von der großen indischen Kultur kaum Notiz genommen, sondern die Einwohner, die sich zum Christentum bekennen wollten, gezwungen wurden, in Kleidung, Gewohnheiten, Sprache und Namen europäisch zu werden wie etwa in der portugiesischen Kolonie Goa). Hierauf weist Leibniz in seinem Brief an Grimaldi vom 19. 7. 1689 - s. unten S. 83 - hin, wenn er schreibt, daß wir bisher von Indien nur Gewürze und Spezereien, von China aber "Wissenschaft" importieren könnten.
China war ein großes, selbstbewußtes Land, das sich erst nach vielen Mühen Europäern erschloß und von ihnen von vorneherein eine Anpassung an seine Sitten und Gebräuche, am zweckmäßigsten auch das Erlernen seiner Sprache und Schrift, verlangte. Die große Faszination Chinas, die sich selbst heute noch jedem Besucher mitteilt, erfaßte auch Leibniz. Er hat China nicht besuchen können, schöpfte seine Informationen daher aus zweiter Hand, aber mit welcher Aufgeschlossenheit und Intensität, mit welcher Breite seines Interesses (von Religion und Philosophie über Geographie und Sprachwissenschaft bis zu Naturwissenschaft und Technologie), und mit welcher Intuition und Kombinationsgabe. Man lese nur, was er in der Novissima Sinica auf S. 12 über die Höflichkeitsformen der Chinesen ausführt, ohne wahrscheinlich jemals persönlich einem Chinesen begegnet zu sein.
Aus der Fülle der Bücher über China, aus denen Leibniz schöpfte - stets bemühte er sich um Neu-Erscheinungen und suchte mit den Autoren persönlich oder brieflich in Verbindung zu treten -, nennen wir außer denen, die er selber vollständig oder in Auszügen als Anhang der Novissima Sinica veröffentlichte:
Nicolas Trigault, De propagatione Christiana apud Sinas, Paris 1618.
Über die Verkündung des Christentums bei den Chinesen. Der Bericht von Matteo Ricci, von Trigault aus dem Italienischen ins Lateinische mit einigen Ergänzungen übersetzt, gab die ersten genauen und vollständigen Daten über China und erregte großes Aufsehen.
Martin Martini, Novus Atlas Sinensis, die erste Karte von China und seiner Provinzen mit Angabe der genauen Längen- und Breitengraden der einzelnen Orte, verbunden mit einer Geschichte des tatarischen Krieges, Köln 1655; 1658 von Blaeu zu Amsterdam in sein bekanntes Kartenwerk übernommen
Gottlieb Spizel, De re litararia Sinensis commentaria. Über die chinesische Literatur, Leiden 1660, enthält die ersten Hinweise auf Konfuzius
Athanasius Kircher, China illustrata, Amsterdam 1667, enthält bereits die Inschrift der Nestorianischen Stele, eine Karte von China (Martini) und Illustrationen
Philippe Couplet, Tabula chronologica Monarchiae Sinicae, Paris 1686
Prospero Intorcetta, Confucius, Sinarum philosophus, Paris 1672. Das Buch erregte sofort die Aufmerksamkeit von Leibniz. Auch: La science des Chinois, Paris 1687.
Louis Daniel Le Comte, Nouveaux memoires sur l'etat present de la Chine, mit Zeittafel, 2 Bände, Paris 1696
Aus den von uns abgedruckten 9 Briefen geht hervor, wie breit gestreut das Interesse von Leibniz war. Wir veröffentlichen zum ersten Mal in der Urschrift und Übersetzung den Brief an Grimaldi vom 19. 7. 1689, den er in Rom schrieb; er schneidet eine Fülle von naturwissenschaftlichen und technischen Themen an. Die Begegnung mit Grimaldi in Rom bot Leibniz die Gelegenheit, in Gesprächen mit einem Augen- und Ohren-Zeugen erstmals unmittelbare zuverlässige Informationen über China zu erhalten. Es steht auf einem anderen Blatt, daß Grimaldi letzten Endes die bohrenden Fragen von Leibniz nicht immer zuträglich für seine eigenen, Grimaldis, Aufgaben fand, Leibniz sich geradezu für die Vielfalt seiner Fragen entschuldigen mußte und von Grimaldi nach dessen Rückkehr nach China auch nicht die von ihm, Leibniz, erbetenen Informationen erhielt.
Dabei war das Bemühen von Leibniz letzten Endes nicht nur analytisch, sondern auch synthetisch gemeint. In seiner Monadologie versuchte er, die aus der aristotelischen Begriffs-Bildung herrührende Spaltung von Seele und Körper im Menschen und den anderen Organismen zu überwinden. In seiner Theodizee begründete er eine Rechtfertigung Gottes als natürliche Theologie neben der christlichen.
Wie weit dies alles durch die Begegnung mit China beeinflußt wurde - wie z. B. Needham behauptet -, wird sich erst sicher feststellen lassen, wenn der gesamte Briefwechsel von Leibniz über China vorliegt. Mehr als 200 Briefe harren noch der Edition, Veröffentlichung, Übersetzung und Kommentierung.
Merkel und Lach haben hierbei bereits eindrucksvolle Vorarbeiten geleistet. Das Buch von Mungello, Leibniz and Confucianism, the search for accord, Honolulu 1977, ist jetzt ein neuer Anfang. Mungello ist zur Zeit in der Niedersächsischen Landesbibliothek bzw. im Leibniz-Archiv damit beschäftigt, sämtliche Briefe von Leibniz über China an Hand der Handschriften selber auszuwerten, ohne hierbei zunächst schon an eine Edition und Übersetzung dieser Briefe für die Öffentlichkeit denken zu können. Eine Veröffentlichung aller Briefe von Leibniz über China mit Übersetzung ins Deutsche sollte in Vorgriff auf die Akademie-Ausgabe bald in Angriff genommen werden.
Wir beschränken uns darauf, einige der in der Novissima Sinica nicht, oder nur andeutungsweise, von Leibniz zum Thema China geäußerte Gedanken und Vorhaben in Stichworten zu nennen:
Die Wahl einer neuen Weltsprache, wobei Leibniz die chinesische Schrift und Sprache für geeignet hielt
Die Gründung einer Welt-Akademie der Wissenschaften, in der westliche und chinesische Wissenschaftler gemeinsam tätig werden sollten
Die Begründung eines Weltbürgertums: Leibniz bezeichnet sich selber in einem Brief an Peter den Großen vom 16. 1. 1712 - vgl. das Konzept bei Guerrier, Leibniz in seinen Beziehungen zu Rußland und Peter dem Großen, Petersburg 1873, S. 208 - als Kosmopoliten, der die verschiedenen großen Kulturen in sich aufnehmen möchte
Die zukünftige Rolle Rußlands als Mittler zwischen China und dem Westen, wobei Leibniz Rußland kulturell im modernen Sinne noch als Entwicklungsland ansah
Die Erforschung Sibiriens einschließlich der Frage der Nachbarschaft zu Nordamerika (die erst 1728 auf der von Peter dem Großen angeordneten Expedition von Vitus Jonassen Bering durch Entdeckung der nach ihm benannten Beringstraße beantwortet wurde)
Die Begründung einer vergleichenden Sprachwissenschaft, die gleichzeitig auch Auskunft über den von Leibniz vermuteten gemeinsamen Ursprung aller Völker der Welt geben könne
Die Herstellung einer gemeinsamen Chronologie für den Westen und China
Die Schaffung einer Clavis Sinica, d. h. eines Schlüssels, der das Erlernen der chinesischen Sprache und Schrift erleichtern könnte
Die Anwendung der von Leibniz begründeten Zwei-Zahlen-Lehre (Dyadik) zusammen mit kombinatorischen Überlegungen auf das chinesische Buch der Wandlungen (I Ging)
Die Begründung einer Methodenlehre zur Erfassung der geistigen Unterschiede zwischen der chinesischen und westlichen Kultur - die von ihm sogenannte "Zwei-Augen"-Methode des Westens - s. unten S. 17 und Anm. 33.
Die Begründung einer westlichen Verhaltenslehre und neuen Moral für die Mitmenschen untereinander, aber auch für Staatsmänner und Politiker aus dem chinesischen Konfuzianismus
Die Analyse des Konfuzianismus nach westlichen Methoden und das Aufzeigen seiner Verwandschaft mit christlichen Gedanken
Die Begründung einer protestantischen Mission - neben der katholischen - im Auslande, auch in China
Wir müssen es uns in dem vorliegenden Rahmen versagen, auf die vorstehenden Gedanken näher einzugehen. Allein schon die Gedanken von Leibniz über die Anwendung der von ihm begründeten Zwei-Zahlen-Lehre unter Hinzuziehung der Kombinatorik und der von ihm sogenannten Dichotomien verdienten es, in ihrer Gesamtheit (Briefwechsel mit Bouvet, den von Leibniz verfaßten Memoires de l'Academie royale des Sciences de Paris vom 5. 3. 1703, Ausführungen von Tentzel 1705 usw.) der Vergessenheit entrissen und der deutschen Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht zu werden.
Lassen Sie sich selber durch die Lektüre der Novissima Sinica von der Fülle der Einsichten von Leibniz vor fast 300 Jahren beeindrucken, die teilweise auf Grund kühner Kombinationen und Schlußfolgerungen entstanden, auch heute noch ihren Wert behalten haben und auch heute noch in die Zukunft weisen.
Lassen Sie sich von der Fülle der von Leibniz aufgeführten Namen und gebrauchten Verweisungen nicht abhalten. Wir haben versucht, die wesentlichen Fragen in den Anmerkungen, wenn auch nicht erschöpfend, zu beantworten.